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Der Wind weht mir eine schrille, weibliche Stimme ins Ohr.
Früher bin ich nicht gern rausgegangen, wenn es windig war, weil es meine Haare zerzaust hat und ich mich durchgehen unwohl fühlte. Ich wollte schön aussehen, nicht zerzaust. Heute liebe ich den Wind, ich habe immer das Gefühl, er würde mir etwas Neues mitbringen. Etwas verändern. Und wenn ich dann im Park stehe und von weitem schon höre, wie die nächste Briese durch die Bäume angezischt kommt, dann freue ich mich auf den Moment, wenn es mich trifft. Dann bleib ich stehen, mach’ die Augen zu und lass mich kurz mitwehen. Und meine Haare sind mir egal.

Die wütende Stimme aber reißt mich aus meinem kurzen Höhenflug. Auf dem Gehweg der Straße, die den Park durchschneidet, läuft eine Mutter mit ihrer Tochter. Das Mädchen muss so um die Zehn sein. Sie trägt einen großen, schweren Schulranzen, der sie zwingt, ein bisschen gebückt zu laufen. Sie starrt auf ihre Füße, bemüht, den schnellen Schritten ihrer Mutter zu folgen. “Weißt du eigentlich, wie viel mich deine Schule kostet?”,  Sie gestikuliert wild in den Wind, eine Hand bedrohlich in der Luft, die andere hält ihre Haare. Ich kann immer noch jedes Wort verstehen. “Ich könnte dich genau so gut auf eine normale Schule schicken, aber wir reißen uns den Arsch auf dafür, dass du eine gute Schule besuchen darfst – dann kann ich doch wenigstens erwarten, dass du aufpasst! Wie soll ich das jetzt dem Papa erklären, mh? Weißt du, was es uns kostet, wenn du die Klasse nochmal machen musst?” Die nächste Böhe trägt ihre Stimme ebenso schnell davon, wie sie kam. Ich blicke der endlosen Szene hinterher, der Mutter, dem Mädchen und dem Rucksack, der immer schwerer zu werden scheint.

Ich mache einen schnellen Schritt nach vorne und öffne den Mund, um etwas zu rufen. Und bleibe doch stehen. In meinem Kopf aber laufe ich weiter, das kurze Gefälle runter zur Straße, den beiden hinterher. Ich sehe mich, wie ich ihnen den Weg versperre, vor dem Mädchen in die Hocke gehe und ihren fürchterlich traurigen Blick suche. “Hör nicht auf sie”, sage ich zu ihr, “du bist genug! Du bist genug, genau so, wie du bist. Du bist wundervoll und liebenswert. Du bist genug! Du darfst niemals vergessen, dass du GENUG bist! Du musst absolut nichts dafür tun, leisten oder sein, um genug zu sein. Du musst einfach nur sein!” Ich nehme ihr den schweren Rucksack von den Schultern und halte ihn ihrer Mutter entgegen. “Das ist deine Last”, sage ich.

 

 

Und dann sehe ich mich. Eine kleine, 11-Jährige Version von mir, die weinend den Ballettsaal verlässt und beschließt, dass sie ab jetzt kein Ballett mehr tanzen will. Weil ein Mädchen gesagt hatte, ihr Bauch sei irgendwie größer als der der Anderen. Ich renne zu ihr und sage: “Du bist genug. Du bist wunderschön, genau so, wie du bist”. Das kleine Mädchen sieht mich an, schüttelt den Kopf, und verschwindet.

Und dann sehe ich mich. Eine neunzehnjährige Version von mir, die weißen Haare schimmernd im Licht der Straßenlampe. Neben ihr ein Typ. Er habe doch nur mit ihr geredet, schreit er, warum sie denn immer gleich so eifersüchtig sein muss. Als er ihr den Rücken zudreht, beschließt sie, in Zukunft nicht mehr so viel zu essen. Damit sie aussieht, wie das Mädchen, mit der er “immer nur spricht”. Ich renne zu ihr und sage: “Du bist genug. Du bist wunderschön, genau so, wie du bist!” Sie glaubt mir nicht.

Und dann sehe ich mich. Eine dreiundzwanzigjährige Version von mir, die wie besessen auf ihr Handy starrt. Keine Kooperationsanfrage. Kein neuer Follower. Sie beschließt, anders zu sein. Mehr Klamotten, mehr Fotos, ein neuer Instagram-Feed. Ich renne zu ihr und sage: “Du bist genug! Du bist wunderschön, genau so, wie du bist!” Sie glaubt mir nicht.

Und dann sehe ich mich. Eine sechsundzwanzigjährige Version von mir, sitzend am Küchentisch mit ihrer Mutter. “Ich finde es so großartig, wie du deinen Weg gehst, und das Leben meisterst”. Sie musste ihr Leben lang nicht ein einziges mal die Last ihrer Eltern tragen. Sie wurde immer geliebt, ganz ohne Bedingungen. Egal bei welcher Entscheidung, mit welcher Zensur. In den Augen ihrer Eltern war sie immer schön, immer wertvoll. Und trotzdem sieht sie es nicht. Ich gehe zu ihr und frage sie: “Woher kommt das nur? Wieso denkst du immer noch, du seist nicht genug? Schau dich doch an, du bist hier, und du bist genug!”

 

Und dann sehe ich mich. Wie ich im Wind stehe und den beiden hinterhersehe. Ich hoffe so sehr, dass das Mädchen irgendwann versteht. Vielleicht nicht erst mit siebenundzwanzig.

“Du bist genug”, sage ich zu mir selbst. “Du bist genug, vergiss das nicht ständig.”

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