Ich trete aus dem dunklen Betonklotz nach Draußen in die Nachmittagssonne. Manchmal, wenn ich wieder vergessen habe, wie die Sonne sich anfühlt, fährt sie durch meinen Körper wie ein kurzes Verliebtsein. Mein Herz wird ganz warm, ich schließe instinktiv die Augen und genieße die Vitamin D Umarmung. Meine Lungen füllen sich mit kalter Luft, und als ich sie wieder ausatme, spüre ich, wie ich den Frust der letzten sechseinhalb Jahre endlich von mir gehen lasse. Und irgendwie auch noch dankbar bin für alles, was ich dadurch lernen durfte.

 

Das war’s.

Es ist vorbei. Ich habe den letzten Vortrag gehalten, die letzte Arbeit abgegeben. Der Tumor in meinem Kopf namens “Studium” ist besiegt, er kann mir gar nichts mehr. Ich habe ihn besiegt. Wie oft habe ich nicht mehr daran geglaubt? Wie oft lag ich heulend in meinem Bett und fragte mich, ob die letzten Jahre Studium nun umsonst gewesen seien? Wie oft habe ich diese Welt und diesen verdammten “ohne Bachelor bist du nichts”-Gedanken verflucht und verflucht und verflucht. Ich weiß es nicht mehr. Ich konnte es irgendwann nicht mehr zählen.

Es gab Zeiten, da habe ich mit allen Mitteln versucht, zu verdrängen. Ich habe die Tatsache, dass ich immer noch mitten im Studium bin, einfach weggeschoben – bis die Briefe ins Haus flatterten, dass ich Diese und Jene Prüfung nun offiziell zum 1. Mal nicht bestanden hatte. Wegen Fristüberschreitung. Drohung mit Exmatrikulation. Jedes mal, wenn der Gedanke an den Betonklotz wieder in den Kopf schoss, schlug mir das Herz bis zum Hals, meine Finger wurden ganz kalt, und ich fühlte mich so allein. Was bin ich nur für ein Loser. Ich schaffe es nichtmal mehr mich auf der Studiums-Website einzuloggen und mal zu checken, was ich noch tun muss. Es ist doch gar nicht mehr so viel. Und meine Handlungsunfähigkeit versaut mir alles. Jeder aus meinem Semester ist bereits fertig, nur ich nicht. Wie soll ich mich da blicken lassen? Man wird mich so sehen, wie ich mich selbst sehe: Als Versager.

Und dann habe ich mich doch wieder überwunden. Ein ganzes Semester für eine einzige, lausige Prüfung. Das war wohl mein Limit. Dann wieder bewegungsunfähig.
Dann wieder ein Brief. Die nächste Überwindung, das nächste Semester für einen einzigen Kurs. Abgehakt. Der Tumor immer noch im Hinterkopf, denn Dasunddas fehlt auch noch. Und dann… der Brief zur Bachelorarbeit. Erster Fehlversuch, weil: Einfach nicht angemeldet, einfach nicht hingegangen. Ich hatte nur noch eine einzige Chance – und sogar die verbaute ich mir fast, weil ich schon wieder die Bachelor-Anmeldung verpasste. Mein Antrieb, auch nur ein Fitzelchen Energie für dieses Studium aufzuwenden, war so tief vergraben, dass es sich selbst das Aufrufen der Uni-Webseite jedes mal wie ein Marathonlauf anfühlte. Ich schaffte es trotzdem, weil ich einen Dozenten fand, dem ich mich anvertrauen konnte, und der mir mit den Worten: “Angela, sie gehen hier nicht raus ohne ihren Bachelor, dafür sorgen wir”, neue Kraft gab.

 

I’m an alien

Ich habe trotzdem alles gehasst. Ich habe mich selbst für meine Unfähigkeit gehasst, und all die scheiss Hipster Design-Studenten. Jeden Professor, jeden Dozenten, der über mich den Kopf schüttelte (wie ich glaubte), ich habe sie alle gehasst. Ich fühlte mich, wenn es um das Studium ging, jahrelang so einsam, so allein, so verloren. Ich wollte abbrechen, hunderte Male wollte ich einfach nur weglaufen. Jedes Semester wieder packte mich eine unfassbare Angst, eine unfassbare Wut über all das – und am meisten über mich selbst. Das Gebäude meiner Fakultät zu betreten war wie der Eintritt in die Hölle. Ich versuchte stets jedem Dozenten aus dem Weg zu gehen, setzte mich allein ganz nach Hinten und rannte davon, sobald ich wieder durfte. Ich bin allein damit. Niemand ist so bescheuert wie ich. Ich bin ein Versager.

Und trotzdem schaffte ich es irgendwie, drei Monate lang jeden Tag an meiner Arbeit zu schreiben und meine Bachelorarbeit einen Tag, bevor ich nach Hawaii flog, abzugeben. Nun fehlte mir nur noch dieses eine Blockseminar… dessen Frist ich natürlich auch schon wieder verpasst hatte. Fristüberschreitung, mein neuer zweiter Vorname. Aber dieses Seminar… es fand genau dann statt, wenn ich eigentlich auf Hawaii sein wollte. Eine Woche vor meiner Bachelorarbeits-Abgabe überwand ich mich dann auch mal dazu, den zuständigen Dozenten davon zu erzählen. Der Endgegner-Dozent, um den ich stets den größten Bogen gemacht hatte, weil ich glaubte, seine Abneigung mir gegenüber am heftigsten zu spüren.  Und er machte mir klar, dass ich diesen Kurs besuchen muss, und das hier die letzte Chance sei. Fliege ich nach Hawaii, versaue ich mir mein Studium, weil ich den allerletzten Kurs, den ich noch brauche, nicht ablegen kann. Ich verließ heulend den Raum.

Und schob es wieder weg. Und flog. Es kam mir nicht in den Sinn, deswegen hier zu bleiben. Ich musste das einfach machen.

Als ich zurück kam hatte ich neuen Mut. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich nun sechs Jahre diesen scheiss Klotz mit mir rumgeschleppt hatte, mich immer und immer und immer (und IMMER) wieder aufgerafft hatte, und es jetzt vorbei sein sollte – wegen einem einzigen, verdammten Kurs. Ich schleppte mich zur Studienberatung, wurde weitergeleitet an Herrn Soundso, der mich an Frau Soundso verwies, die mir sagte, ich müsste “nur eine schriftliche Fristverlängerung beantragen”. Eine Woche später hatte ich die Fristverlängerung für meinen letzten Kurs in der Hand. Januar 2017 sollte ich ein letztes Mal ein paar Tage in die Uni. Eine Arbeit schreiben, darüber einen Vortrag halten, und das war’s.

 

Endspurt

Eine Erinnerung in meinem Handy ermahnte mich täglich, acht Monate lang, die Anmeldefrist diesmal nicht zu versemmeln – und hurra, es klappte.
Am ersten Tag wieder im Betonklotz starb ich natürlich tausend Tode, wie immer, wie jedes mal. Ich fürchtete mich so sehr vor der Gruppe, die ich heute kennenlernen sollte. Alles fleißige 5. Semestler, ich als einziges unbekanntes Gesicht. Bestimmt muss ich erklären, in welchem Semester ich bin. Der Endgegner-Dozent genau der, vor dem ich ein Jahr zuvor noch in Tränen ausgebrochen war, weil er mir sagte, ohne den Kurs könnte ich mein Studium vergessen. Ich setzte mich wieder nach hinten, und fühlte mich so Außerirdisch wie jedes Mal.
Und dann lernte ich Tobi kennen. Ich hatte mir offensichtlich einen Platz neben dem aufgedrehtesten Jungen im ganzen Semester ausgesucht, der mir sofort die Hand hinstreckte. Innerhalb von zehn Minuten wusste ich, dass er bald nach Bangkok fliegt und hatte fast meine komplette Hawaii Geschichte erzählt. Mit einem einzigen Handschlag war alle Einsamkeit, alle Angst, jedes Alien-Gefühl verflogen. Tobis offene Art brachte mich binnen wenigen Sekunden dazu, mich in alle Richtungen zu öffnen – und so erzählte ich ihm sogar von meiner schrecklichen Angst vor dem Vortrag. “Stell dir einfach alle hier nackt vor. Oder schau’ einfach mich an, ich werd dir zeigen wie prima ich deinen Vortrag finde.”

Als ich nach vorne ging fühlte ich mich auf einmal wieder als Teil von Etwas. Wenn all die Ängste, die ich während den letzten 6,5 Jahren mit mir rumschleppte, mit nur einem einzigen Handschlag begraben werden können… wenn alles, was man braucht, das Gefühl ist, Teil eines Großen und Ganzen zu sein, dann sollen alle hier wissen, dass sie niemals Angst haben müssen. Und so stellte ich mich vor mit den Worten: “Ich bin Angela, und ihr kennt mich bestimmt alle nicht – ich bin nämlich im 13. Semester. Wenn ihr also irgendwann mal denken sollte, es geht nicht mehr, denkt an mich. Oder schreibt mir, ich kenne mich ganz gut aus.” Mit diesem Satz blickte ich in 30 lachende Gesichter. Und vielleicht denkt ja wirklich mal jemand an mich, wenn er nicht mehr weiter weiß – und fühlt sich dann ein Stück weit weniger allein.

 

Ubuntu

In dem Moment, als ich nach Draußen in die Sonne trat, verstand ich so viel. Ich verstand endlich, warum ich durch die Studiums-Hölle gehen musste: Um genau das hier zu verstehen.

Ich war niemals ein Alien. Niemand hat mich jemals gehasst und wollte mir etwas Böses. Der einzige Grund, warum ich mich einsam fühlte, war ich selbst. Ich machte mich selbst zu einem Alien. Ich schloss mich aus, weil ich niemals darüber sprach. Was wäre gewesen, wenn ich in den letzten sechs Jahren dieses Thema auch nur ein einziges mal auf diesem Blog erwähnt hätte? Wieviel von euch hätten gesagt: “Ich kenne das Gefühl so gut! Ich habe genau das gleiche Problem!”

Ich habe meine Menschlichkeit nie gezeigt – und bin deshalb zu einem Alien geworden.

 

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Alles, was wir brauchen, ist die Gewissheit, dass wir Teil eins Großen und Ganzen sind. Egal in welcher Lebenslage. Verlieren wir das aus den Augen werden wir einsam – und diese Einsamkeit ist ein Teufelskreis, der uns immer tiefer sinken lässt. Was passiert mit Ängsten, wenn wir sie aussprechen? Es macht uns nicht schwach, es macht uns menschlich. Ich bin ein Mensch, so wie du. Wie soll ich mich nicht mit dir verbunden fühlen?
Jemand hat mal zu mir gesagt:

“Der Mensch wird erst durch andere Menschen zum Menschen.”

Und das durfte ich aus all dem lernen. Wenn ich jetzt zurückblicke, hätte ich nichts anders gemacht. Ich musste eben durch all die Gefühlskotze laufen, um das hier endlich zu verstehen.

Diesen Post hier schreibe ich, um euch Mut zu machen. Sprecht über eure Ängste, lasst nicht zu, dass ihr zu Aliens werdet. Sobald du deine Ängste aussprichst, sie zulässt und nicht verdrängst, geht es dir besser – und nicht nur dir, deine Ängste können sogar anderen Mut machen. Du bist niemals, absolut NIEMALS allein mit dem, was du fühlst. Ganz egal, was es ist. Auf diesem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, so etwas wie Einsamkeit, so etwas wie “es geht doch nur mir so”, existiert nicht. Es existiert nur in unseren Köpfen.

 

Als ich aus der Vitamin D Trance wieder aufwachte, fühlte ich mich so stark wie niemals zuvor. Tobi boxt mir von hinten auf die Schulter und sagte: “Dreizehn Semester statt sieben? High five on that!”

In meiner Bachelorarbeit schrieb ich übrigens eine 1,3. Und der Dozent, vor dem ich mich jahrelang so fürchtete, hatte wohl auch mal eine Zeit lang auf Maui verbracht. Und plötzlich fand ich mich plauschend mit ihm über die Insel wieder – von Mensch zu Mensch.

<3

 


 

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