Manchmal, wenn ich Abends im Bett liege, bleibe ich ein bisschen auf Snapchat hängen. Ich schaffe es selbst einfach nicht, diese App regelmäßig zu nutzen, und meistens sehe ich mir dann doch nur die Stories der anderen an. Und so erfreue ich mich mal wieder an herrgenz und gluckse ein bisschen rum, bis die Geschichte auf einmal weiterläuft und ich einen weinende Masha vor mir sehe. Ich weiß nicht, was passiert ist, die Snaps davor habe ich wohl nicht gesehen, aber ihr Anblick erschreckt mich so, dass ich kerzengerade im Bett sitze. Ich weiß, das sie gerade in Barcelona schootet, und mein erster Gedanke ist: Sie hatte einen Autounfall. Jemand ist verletzt. Hat es gebrannt? Ich verstehe nichts.

Ein paar Sekunden später spüre ich so etwas wie Erleichterung. Das Gefühl der Erleichterung kommt einfach so, ich kann es nicht unterdrücken und es soll nicht bedeuten, dass ich das, was Masha passiert ist, als „nicht so schlimm“ abtue – es ist eben ein Gefühl und es kommt, wann es kommt. Ebenso wie Masha Gefühle in dieser Situation gekommen sind, wie sie kommen. Meine Erleichterung sagt mir: Es geht ihr gut. Niemand ist verletzt. Sie ist „nur“ ausgeraubt worden. 

Nur.

In der nächsten Sekunde frage ich mich, ob es ein „nur“ für Masha ist. Ich höre mir die Geschichte weiter an und sie erzählt, wie sie mit ihrer Mutter telefoniert hat und fürchterlich wütend wurde, als diese meinte, sie solle nicht so sehr an „Dingen hängen“ und lieber froh sein, dass nichts ernsthaftes passiert ist. Mein Gefühl sagt mir wieder, dass ich genau verstehe, was ihre Mutter damit sagen wollte – aber ich weiß auch, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt war, eben das zu kommunizieren. Masha zeigt sich ganz unverblümt weinend auf Snapchat, alles an ihrer Körpersprache sagt, dass sie frustriert und fürchterlich wütend ist. Die natürlichste Reaktion – erinnert ihr euch an meinen letzten Post? Wenn einem Menschen Schmerzen zugefügt werden, dann will er nichts anderes, als diesen weitergeben. Die Schuldigen dafür zu bestrafen, ihnen eben den gleichen Schmerz zufügen. Ganz normal, ganz natürlich. Das letzte, was jemand in so einer Situation braucht, ist die eigene Mutter, die den Schmerz nicht ernst nimmt und ihn sogar als nichtig oder gar falsch darstellt. Ich glaube, dass alles, was Masha in dieser Situation gebraucht hätte, jemand ist, der einfach da ist. Der sie in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird – ohne Wertung. Ohne „es ist doch nicht so schlimm“ – aber auch ohne: „Du hast recht! DIE haben dir das angetan, lass sie uns gemeinsam hassen!“

Vor ein paar Monaten vergaß ich auf Hawaii in einem Supermarkt meinen Geldbeutel. Mit Kreditkarte, Ausweis, Führerschein und etwas Geld. Ich stand am anderen Ende der Welt ohne all diese Dinge, und der Moment, als ich es realisierte, war fürchterlich. Ich lief in den Supermarkt, durchforstete Craigslist und rief noch tagelang danach regelmäßig im Supermarkt an. Aber mein Geldbeutel war verloren. Zwei Tage danach sagte Chrissy zu mir, dass sie es bewundere, wie locker ich mit der Sache umgehe, und sie hatte recht. Ich war dort im Urlaubs-Modus und total ausgeglichen, vielleicht fiel es mir deshalb so leicht. Ich hatte mich stundenlang über all das geärgert, und dann beschloss ich, mich nicht mehr zu ärgern. Ich beschloss es einfach. Ich wusste, dass mein Geldbeutel und alles darin unwiederbringlich weg sein würde, egal, was ich tue. Egal, wie sehr ich mich darüber aufrege. Ich hatte also die Wahl: Entweder ich rege mich weiterhin darüber auf – oder ich tue es nicht und genieße meinen Urlaub. Ich habe mich für Zweiteres entschieden.
Ich ließ das negative Gefühl einfach gehen, sperrte meine Karten, überwies Chrissy so viel Geld, wie ich brauchen würde und sie hob in Zukunft etwas für mich ab. Natürlich war all das mit Stress verbunden – auch das neue beantragen von Ausweis und Führerschein – aber auch hier stand ich immer wieder vor der gleichen Wahl: Es abwehren, mich aufregen – oder akzeptieren und negative Gefühle loslassen. Letztendlich kann ich sagen, dass mich noch niemals eine so beschissene Sache so wenig gebockt hat. Es war mir einfach egal. Es war nur ein Geldbeutel.

Don’t get attached to material things

Eine weitere, ganz besondere Sache, die ich auf Hawaii lernen durfte, war das, was Mashas Mutter versucht hat ihr am Telefon zu erklären: Nicht mehr so an materiellen Dingen hängen. Ich lebte dort mit so wenig Kleidung wie nie zuvor und verschenkte so viel wie nie zuvor. Durch den Geldbeutel-Zwischenfall wurde mir bewusst, wie krass solche Dinge die eigene Gefühlswelt beeinflussen können. Wie sehr es weh tun kann, wenn Besitztümer, wenn „mein“ nicht mehr „mein“ ist. Und das wurmte mich. Ich wollte es unbedingt schaffen, dass mich solche Dinge in Zukunft gar nicht mehr runterziehen können. Ich möchte nicht traurig sein müssen, egal wegen was, egal in welches Lebenssituation – und ein verlorengegangenes Ding sollte in Zukunft das geringste Übel sein.

Eines Tages fand ich am Straßenrand auf Maui ein T-Shirt. Ich nahm es mit nach Hause und zeigte Chrissy stolz, was nun mein neuer Besitz sein sollte. Chrissy freute sich ebenso darüber und fragte, ob sie es auch mal haben durfte, und instinktiv dachte ich mir: „Aber das ist doch meines. Ich will es doch immer tragen können, wenn ich möchte, denn es gehört mir.“ Es dauerte ein paar Stunden, bis ich mir auch das bewusst machen konnte. Was macht es denn für einen Unterschied, ob es „meines“ ist? Was macht es für einen Unterschied, ob überhaupt IRGENDETWAS, was ich trage, tatsächlich MIR gehört? Was ändert das an meiner Persönlichkeit, ob eine teure Tasche nun geliehen ist oder tatsächlich MIR gehört? Was versuche ich dadurch nach Außen zu kommunizieren? „Hier, das bin ich und das sind meine teuren Besitztümer. Schau, ich BIN jemand. Ich bin erfolgreich und habe Geld und kann mir deshalb das hier leisten.“ Natürlich war das Shirt kein teures Designerstück. Für mich war es ein Erinnerungsstück, was mich immer an diesen Ort hier erinnern sollte – aber wozu brauche ich dafür Dinge, wenn doch alles, was ich dafür brauche, sowieso in meinem Herzen ist?
Nachdem ich das realisiert hatte ging ich zu Chrissy und erklärte ihr, dass sie dieses Shirt tragen kann wann immer sie möchte, dass es, wenn es einen Besitzer haben soll, wir beide sein sollen. Und von mir aus auch alle anderen Menschen dieser Welt, die es gerne mal anziehen möchten.

Es ist unendlich scheisse, was Masha passiert ist. Ich möchte mir gar nicht vorstellen wie es sich anfühlen muss, ein aufgebrochenes Auto vorzufinden und all seiner Besitztümer beraubt worden zu sein. Lieblingsteile, die immer passten, die perfekt saßen, tausende von Euro an Designerkram, die für immer verloren sind. Der Kampf mit der Versicherung, den Masha nun auf sich nehmen muss und die Tatsache, dass sie all das nun irgendwie den Agenturen erkläre muss. Es ist ätzend. Aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass auch Masha sich ganz bald dazu entscheidet, es zu akzeptieren. Es ist geschehen und es lässt sich nicht Rückgängig machen. Nichts wird diesem Umstand besser machen, keine Rache, keine neuen Teile. Die einzige Möglichkeit, positiv aus dieser Sache rauszugehen ist sich dazu entscheiden, alles gehen zu lassen. Sich zu sagen: „Ich höre jetzt auf deswegen traurig zu sein, denn es bringt nichts. Ich werde mir meinen Urlaub und diese Stadt nicht kaputt machen lassen. Ich kann mich jetzt weiter aufregen – oder ich kann es sein lassen.“
In ihrem Wochenrückblick-Post schrieb sie, dass sie „ Momentan einfach nicht sie selbst“ ist, und ich finde, das ist schon ein sehr großer Fortschritt. Sie ist nicht sie selbst. Sie ist wütend und frustriert – und das ist nicht sie selbst. Sie selbst ist jemand, der darüber hinwegsehen kann, der sehr wohl noch genießen kann und Freude am restlichen Urlaub finden kann, jemand, der akzeptiert, was geschehen ist. Es zeugt von so großer Stärke, genau das zu tun. 

Akzeptieren was ist, ist wohl eines der schwierigsten Dinge im Leben. Und es ist nichts falsches daran sich erstmal von negativen Gefühlen leiten zu lassen – wichtig ist nur, sich nicht davon einnehmen zu lassen. Abschütteln und weitermachen. Und dann mit einem Lächeln auf den Lippen.


P.S., weil hierzu schon Fragen kamen: Ich habe Masha den ganzen Post vorab geschickt und sie gefragt, ob ich ihn genau so veröffentlichen kann. Ohne Einverständnis und Segen hätte ich das natürlich nicht getan. :)

 


 

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