“Sag mal hast du sie noch alle? Du kannst doch nicht einfach den Raum verlassen und RAUCHEN gehen, wenn du Frau Heberl essen eingeben sollst!” sagt die dicke, verbitterte, schreckliche Frau zu mir. Mir klappt die Kinnlade runter und meine Unterlippe beginnt unkontrolliert zu zittern. “Was? Ich hab doch nicht…” ich halte meine Thermoskanne hoch. “Ich habe mir meinen Tee geholt…” Und als ich es ausspreche bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob sie das überhaupt gehört hat, weil meine Stimme klingt wie die einer fiependen Maus. Mir schießen die Tränen in die Augen und ich bekomme Panik, weil ich jetzt und hier ganz bestimmt nicht anfangen möchte zu heulen. Ich kenne meinen Kopf. Wenn ich jetzt versuche es zu unterdrücken wird es nur noch schlimmer. Die dicke Frau mit hochrotem Kopf erhebt die Stimme noch mehr und während sie immer größer wird versinke ich im Boden als sei er Treibsand. Und als mir die erste Träne über die Wange läuft unterbricht sie ihre Vorwürfe für einen Satz, der mir den Rest gibt: “Wie willst du in deinem Leben denn irgendwas erreichen, wenn du ständig anfängst zu heulen?”
Ich renne an ihr vorbei, den Gang runter, ab ins Klo, schon wieder, sperre mich ein und kauere mich auf den Boden. Schon wieder. Ich weiß nicht, wie oft ich hier die letzten Wochen schon gesessen bin und mir die scheiss Augen aus dem Kopf geheult habe. Und Meine Gedanken breiten sich mal wieder aus wie eine unkontrollierbare Epedemie:

Ich war doch nicht rauchen! Ich habe Halsweh und wollte meinen Tee holen! Wie kann sie behaupten, dass ich lüge, ich lüge nie! Ich würde doch niemals die alte Dame allein lassen um rauchen zu gehen, ich weiß doch, dass sie nicht alleine essen kann. Ich bin doch jeden Tag hier und erledige die Arbeit der Schwestern, ich bin hier der gottverdammte EINZIGE Lichtblick für so viele Menschen, ICH bin diejenige die Essen und Kaffee verteilt wenn die Schwestern ihren Kaffeekranz halten! Wie kann sie so etwas unfaires behaupten und von mir denken ich sei in solchem Maße rücksichtslos? Sieht hier denn keiner, wie viel Arbeit ich ihnen abnehme? Wie oft habe ich mir schon gedacht, was die in diesem scheiss Laden eigentlich ohne Praktikanten machen würden! Und warum zur Hölle kann ich es nicht einfach aussprechen? Wieso stehe ich da wie ein Mäuschen und verteidige mich nicht, sondern fang nur wieder an zu flennen? Wie soll ich denn jemals in meinem Leben weiterkommen, wenn ich bei jeder Kritik Tränen ausbreche wie eine Dreijährige? Wird überhaupt mal was aus mir, was kann ich denn schon? Ich bin kein Mathegenie wie meine Bruder, ich bin in überhaupt nichts ein Genie, alles, was ich mal werden kann ist die Frau von irgendjemandem, DER was kann. Ich werde niemals jemand sein. Ich bin absolut gar nichts. Ich will diese Frau nie wieder sehen, ich werde jetzt nach Hause gehen, mein Praktikum schmeissen, mich Wochenlang in mein Zimmer verkriechen, meiner Praktikumsleitung aus der Schule kann ich DAS sicher auch nicht erklären, also schmeiss’ ich die Schule auch gleich, aus mir wird sowieso nichts. Schau dich doch mal an, wie du hier am Toilettenboden sitzt.

Und es hört nicht auf. Ich zerdenke, zerdenke und zerdenke immer weiter, bis zum Weltuntergang. Der Vorwurf dieser alten Schnepfe lässt mich mal wieder ertrinken in einem Meer aus dickflüssigen, öligen Selbstzweifeln. Es gibt keinen Ausweg.

Du bist keine Heulsuse, nur weil du viel weinst

Heute, acht Jahre später kann ich diese Situation bei weitem nüchterner betrachten als damals. Und trotzdem glaube ich, dass ich wahrscheinlich immer noch ähnlich reagieren würde. Ich bin ein Sensibelchen vom Kaliber Seifenblase. Ich zerplatze sofort. Anders als damals aber weiß ich heute, dass ich deswegen keine Heulsuse bin. Eine Heulsuse weint, weil sie eben winy ist und hofft, dadurch etwas zu erreichen. Mitleid oder Aufmerksamkeit zu erhaschen. Eine Heulsuse sein ist keine gute Eigenschaft, und das bin ich nicht.
Ich zerdenke einfach alles. Jede Situation in meinem Leben zerdenke ich, und ich sage ZERdenken, weil das mit NACHdenken nicht mehr viel zu tun hat. Wenn Simbas Vater stirbt heule ich, weil ich mir vorstelle, wie schrecklich es sein muss ohne Eltern zu sein. Ich stelle mir ungewollt Bildlich vor, wie es wäre, wenn ich in dieser Situation stecken würde. Wenn ich von einem Terroranschlag höre heule ich, weil ich in meinem kopf plötzlich neben Schutt und Asche stehe und jemanden verloren habe, der mir nahe steht. Wenn mich jemand kritisiert heule ich, weil ich wieder mein ganzes Selbst in Frage stelle und mein Kopf die Situation in fünf andere Dimensionen weiterspannt, Dimensionen, die der Kritiker gar nicht betreten wollte. Wie oft habe ich von meinen Mitmenschen schon gehört: “Was? Wie kommst du denn jetzt da drauf? So habe ich das doch gar nicht gemeint, das interpretierst du da jetzt nur rein!”

Auf der falschen Ebene empfangen

Wenn man mir “A” sagt, denke ich “B, C, 4, 794923, &, Doppel S und 27”. Soll eine Aussage mich im Kopf treffen, erwischt sie mich ganz oft im Herz. Im Psychologieunterreicht (zu eben dieser Zeit, als ich im Altenheim arbeitete) habe ich eine Theorie gelernt, die beschreibt, auf welchen Ebenen Menschen eine Aussage Senden und Empfangen. Man unterscheidet beispielsweise zwischen Sacheebene und Beziehungsebene: Mein Gegenüber sendet auf einer sachlichen Ebene und ich empfange fast immer und ausschließlich auf der Beziehungsebene. “Du darfst die alte Dame nicht alleine essen lassen, da es für sie gefährlich sein könnte” ist eine sachliche, vielleicht appelierende Aussage. Ich allerdings höre darin: “Du bist ein schlechter, rücksichtsloser Mensch, weil du sie alleine gelassen hast.”

Und Es zehrt. Sich ständig Gedanken über alles zu machen laugt mich manchmal aus, kann mir den ganzen Tag versauen und andere Leute ziemlich verwirren. Wie auch damals die Schwester aus dem Altenheim.
Ich habe über die Jahre gelernt, mir genau das bewusst zu machen. Ich fühle nunmal einfach zu viel. Die Schwester war fürchterlich sauer, weil sie ernsthaft glaubte ich hätte diese Untat begangen und wollte an mich – wenn auch nicht ganz im richtigen Ton – appellieren. Die richtige Reaktion wäre auf der gleichen Ebene wie die ihre kommen sollen: “Ich verstehe, dass Sie mich ermahnen wollen, denn man lässt einen Menschen nicht allein, der an bei dem Versuch selbst zu Essen ersticken könnte. Ich verspreche aber, dass meine Intention bestimmt nicht war nun rauchen zu gehen, sondern dass ich mir lediglich meinen Tee holen wollte. Auch das hätte ich nicht jetzt tun sollen, sondern später.”

Es ist bei Gott nicht einfach sich selbst in Gesprächen ständig zu analysieren. Und glaubt mir, ich schaffe es auch nur zu 50 Prozent. Ich bin ein hochsensibler Mensch und werde es wohl immer bleiben, aber ich gehe nicht daran kaputt, weil ich es zumindest im Nachhinein schaffe die Dinge nüchtern zu betrachten. Und wenn ich ehrlich bin will ich es auch nicht zu 100% ändern – denn die Gedanken, die ich mir mache, sind zwar manchmal einfach zu viel, aber sie machen mich zu einem mitfühlenden Menschen. Jemand der liebt, sich aufopfert und sich in andere reinversetzen kann. Und das “zu viel fühlen” kann in die andere Richtung auch wahnsinnig schön sein: Ich kann mich über die kleinen Dinge im Leben freuen als seien sie ein Lottogewinn.
Wenn ich mich freue, dann so richtig. Und wenn ich liebe, dann so richtig.
m2

Für den Titel dieses Blogposts habe ich mich der Worte einer anderen Bloggerin bedient: Tara-Louise. Wer mein Alltagsgeschwafel mag, sollte sich ihre Geschichten auch dringend durchlesen.

Ich fühle zu viel - wie man mit Hochsensibilität umgeht

 


 

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