Ich war damals junge sechzehn, in der 11. Klasse an der Fachoberschule für Sozialwesen und steckte mitten in der Praktikumsphase. Ich war bestimmt schon seit sechs Wochen im Altenheim. Morgens gabs Kaffe, mittags rannte ich von Zimmer zu Zimmer und sorgte mich um die Bewohner die selber nicht mehr essen konnten, machte Besorgungen, ging spazieren oder sang alte Volkslieder.
Mit Frau N. rauchte ich jeden Tag heimlich im Zimmer eine Zigarette – nicht weil ich es gebraucht hätte, aber irgendwie machte es sie glücklich nicht allein qualmen zu müssen.
Frau H. erzähle ich Tag für Tag die gleichen lustigen Geschichten und jeden Tag lachte sie erneut genauso herzlich darüber wie am Tag zuvor. Es war eben jeden Tag wieder neu für sie.
Herr B. war einer der wenigen, der noch feste Nahrung zu sich nehmen konnte, dafür aber leider nicht mehr in der Lage war zu sprechen – und weil ich von den Schwestern nichts über seine Vergangenheit erfahren konnte begann ich irgendwann einfach zu singen wären ich seinen Toast schnitt und dafür sorgte, dass er diesen aufaß. Er wippte stets mit dem rechten Fuß im Takt.

Am meisten sorgen aber bereitete mir damals eine andere alte Dame. Sie war bereits seit mehreren Jahren hier und weder in der Lage zu sprechen, essen noch sich anderweitig zu bewegen. Ihre Beine und Arme waren dünn und verkümmert, kein einziger Muskel war mehr zu erkennen. Selbst den Mund öffnen fiel ihr schwer. Ihr Zimmer war kalt und leer, kaum Bilder an den Wänden, keine Blumen, keine Geschenke. Am Fuße ihres Bettes flackerte der Fernseher den ganzen Tag, manchmal lauter, manchmal leise, ob sie irgendwas verstehen konnte wusste ich nicht. Jeden mittag kam ich zu ihr und gab ihr Essen ein, Löffel für Löffel ein püriertes Mittagsmahl. Ich nahm mir meistens heimlich einen eigenen Löffel mit um vorher zu probieren und gegebenenfalls etwas nachzuwürzen. Mann, schmeckte das scheußlich.

Erst nach einer gewissen zeit traute ich mich mit ihr zu sprechen – oder sagen wir ZU ihr zu sprechen. Ich schimpfte über das Essen und entschuldigte mich für den Geschmack, gab sinnlose Kommentare zur Punkt 12 Sendung ab und versuchte verzweifelt eine Reaktion auf ihrem Gesicht zu erkennen. Ich wusste nie, wie viele Praktikanten und Zivis sie schon miterlebt hatte und ob sie irgendjemand überhaupt mal so zuquatschte wie ich, ob sie es genoss oder ob sie zu Tode genervt war. Oder ob sie überhaupt etwas von all dem mitbekam.
Ich hasste es, wie die Schwestern mit ihr umgingen. Wie sie sie grob anpackten. Die alte Dame brachte nur ein schmerzvolles grunzen hervor wenn sie gewaschen wurde während ihre versteinerten Gelenke mit Gewalt nach rechts, links, oben und unten gedreht wurden. Diese Frau wurde behandelt als hätte sie kein Schamgefühl, da stand beim waschen die Tür offen und die Schwester rubbelte mit einem Waschlappen lieblos ihren knochigen Körper ab. Beschweren konnte sie sich ja nicht.
Ab und zu brachte mich das zum weinen. Die ersten Tage im Altenheim verbrachte ich täglich auf der Schwesterntoilette um mir mal kurz alles von der Seele zu flennen. Mit der zeit aber entwickelte sich diese Trauer eher zu Wut und dem immer größer werdenden Willen irgendetwas zu finden was dieser Frau Gott verdammt noch mal Freude bereiten konnte.

Und letztendlich wurde ich dafür belohnt.
Einmal in ca. zwei Monaten kamen ihre Söhne vorbei, setzten sich für eine Stunde zu ihr und verschwanden ebenso schnell wieder wie sie gekommen waren. Was ich aber hören konnte war der kärtner Dialekt – den höre ich dank meiner Mama überall heraus.
Am nächsten Tag also, als es wieder pampige Plörre mit pampigem Orangensaft gab fing ich an von meiner Familie zu erzählen: “Meine Mutter ist in Klagenfurt geboren, wissen sie. Eine sehr schöne Stadt, ich bin eigentlich jedes Jahr dort.” Ich hatte den Satz kaum beendet als sie ihren Kopf langsam zu mir drehte und mir zum aller ersten mal direkt in die Augen sah. Klagenfurt! Das war also die Nadel im Heuhaufen. Mann, wie ich innerlich zu jubeln begann. Sie lag da und sah mich mir ihren großen, neugierigen Augen einfach nur an – und obwohl sich ihre Mundwinkel keinen Millimeter bewegten wusste ich, dass sie sich freute. Ich erzähle, was es so neues gab, wie schön es das letzte mal am Wörthersee doch war und wie sie nun eine neue Unterführung in Annabichl gebaut hatten.
Und sie sah mich an. Die ganze Zeit.

Von diesem Tag an sah sie mich immer an. Sobald ich die Tür öffnete und “guten Morgen” rief drehte sie den Kopf zu mir. Nur zu mir.
Die ganzen Monate in denen ich dort arbeitete habe ich niemals gesehen dass sie jemand anderem in die Augen sah.

Eines morgens, als ich mal wieder ohne anzuklopfen ins Zimmer stürmte blieb ich inmitten dieses kleinen kahlen Raumes stehen. Ich sah mich um, machte kehrt, rannte in die Schwesterntoilette und setzte mich abermals auf die kalten fliesen um zu weinen. Der Fernseher war nicht an gewesen, das Bett leer und frisch bezogen. Nach den vielen Wochen hier wusste ich natürlich was das bedeutete.

Ich hatte die alte Lady sehr lieb gewonnen, obwohl sie niemals ein Wort mit mir wechselte, obwohl alles was ich von ihr bekam dieser eine besondere Blick war.
Große, glasige blaue Augen umringt von unzähligen Fältchen die alle gemeinsam nur für mich lachten.


think of all the stories that we could have told.

 


 

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