Ich beobachte das kleine Mädchen. Ich weiß von ihrer Mutter, dass sie erst vor ein paar Wochen mit dem Laufen begonnen hat, und so stackst sie unsicher aber voller Erkundungsdrang zwischen den Hochzeitsgästen umher. In der Hand trägt sie einen kleinen Eimer mit Rosenblättern. Kurz bleibt sie stehen, blickt in den Eimer und beginnt, ihn energisch zu schütteln – bis sich all die Rosenblätter um sie herum auf den Kies verteilen. Ihr Vater lacht, streicht ihr über den Kopf und sagt: “Na, nun musst du sie aber auch alle wieder aufsammeln.” Emma guckt verdutzt zu Boden, in den leeren Eimer, wieder auf den Boden. So viele Blätter. 

Ich beschließe ihr zu helfen. Wir kennen uns nicht besonders gut, also setze ich mich erstmal zu ihr auf den Kies, bevor ich sie anspreche. Einen kurzen Moment fühlt es sich seltsam an, immerhin befinde ich mich jetzt auf Kniehöhe aller anderen Gäste – aber ich bin nun auf Emmas Augenhöhe.

Und die findet das prima. “Ich helfe dir”, sage ich, hebe ein einzelnes Blatt auf und strecke es ihr hin. Sie greift danach, blickt in den leeren Eimer, und wirft das erste Blatt hinein. Und sieht mich wieder erwartungsvoll an. Ich nehme ein weiteres, einzelnes Blatt und halte es ihr erneut hin. Wieder nimmt sie es und schmeißt es in den Eimer zurück. Und lacht. Ich greife nach dem Dritten.
“Du hast ja eine Engelsgeduld”, sagt ein auf uns herabblickender Beobachter. Wir sind jetzt bestimmt beim fünfzigsten Blatt angekommen, wie viele Minuten vergangen sind, weiß ich nicht. Ich nehme einfach ein Blatt nach dem anderen und erfreue mich daran, wie Emma sich freut. Wieder und wieder und wieder, bis der Eimer voll ist.

An diesem Tag fragte ich mich, warum mich diese seltsame, monotone Tätigkeit nicht nervte, bin ich doch sonst so furchtbar ungeduldig. Und wieso ich auf einmal wieder “so gut mit Kindern” konnte. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass ich irgendwie keinen richtigen Draht mehr zu Kindern fand – sie schüchterten mich ein mit ihrer Ehrlichkeit. Einem Kind nah sein, mit ihm spielen und Blödsinn machen empfand ich zwar schon immer schön – aber ich wollte ihnen nie zu nahe treten (ich erinnere mich hier an meine Kindheit, und wie ich immer gehasst habe, von fremden umarmt oder gar abgeknutscht zu werden). Vor meiner Teenagerzeit ging ich mit einer wunderbaren Leichtigkeit an Kinder heran, die ich, je älter ich wurde, irgendwie verlor. Ich wurde unsicher – und Kinder spüren das.
In letzter Zeit aber erwischte mich wieder öfter dabei, wie ich Kindern entweder ewig lang zusehen konnte bei ihren Spielereien, oder wie ich mich in ihrer… Schönheit verlor. Das mag seltsam klingen, aber wie oft ich ein Kind in letzter Zeit als “außergewöhnlich schön” beschrieb, fand ich irgendwann selbst nicht mehr ernst zu nehmen.

Ich war mir immer schon unsicher, ob ich selber mal Kinder möchte. Ob ich Kinder in diese Welt setzen möchte, ob ich eine gute Mutter sein könnte. Ich erklärte mein “seltsames Verhalten” und die neuen Gefühle, die der Anblick eines Kindes in mir auslöste, ganz einfach damit, das ich jetzt nunmal 27 bin. So wie ich irgendwann meine Periode bekommen habe kommen jetzt altersbedingt irgendwelche Muttergefühle in mir auf. Irgendwie so. Klingt logisch.

Vielleicht ist das ja wirklich so, eben biologisch bedingt. Vor ein paar Wochen aber fand ich eine weitere Erklärung:
Ich befand mich auf einem Firmen-Sommerfest auf dem Land, es regnete und die Feier fand gemütlich in einem großen Zelt statt. Natürlich wuselten auch ein paar Kinder umher. Ein Mädchen fiel mir besonders auf (natürlich eines der schönsten Kinder, dass ich jeeeemals gesehen hatte). Sie rannte aufgeregt zu ihrer Mutter und rief: “Mama, wo ist meine Matschhose? Ich brauche meine Matschhose!” Ich musste lachen, weil sie so überzeugt klang, als sei das Tragen dieser einen, wasserdichten Hose, gerade das Wichtigste auf der Welt. Als wäre sie wütend darüber, dass niemand sonst das Dilemma über die nicht vorhandenen Matschhose versteht.

Ein bisschen später, als ich das Zelt kurz verließ, um auf Toilette zu gehen, fand ich das Mädchen wieder – sie hatte ihre Matschhose bekommen. Fest eingepackt mit Jacke, Kapuze, Matschhose und Gummistiefeln kniete sie auf der nassen Wiese, die nackten, schmutzigen Hände vergraben in der Erde. Sie hatte ein ziemlich beachtliches stück Wiese aufgebuddelt. Diese Szene fesselte mich so, wie es kaum ein Film in letzter Zeit getan hatte. Ich wünschte mir in diesem Moment, ich hätte auch eine Matschhose. Ich wünschte mir, ich könnte mich kurz mal aus der Ewachsenenwelt ausklinken, mich zu ihr runterknien, meine Hände im Matsch vergraben und genau mit dieser einfachen Tätigkeit so glücklich sein, wie das kleine Mädchen.

Aber ich bin erwachsen. Ich bin kein Kind mehr, ich bin siebenundzwanzig und ich darf mir a) nicht meine Hose schmutzig machen, b) ist Matsch doch super unhygienisch, c) werden dann meine Haare nass und sehen scheisse aus und d) wäre ich einfach für alle Anwesenden hier verrückt. Ich wünschte mir, all diese Gedanken würden einfach von mir abfallen. Ich wünscht mir, ich könnte alle Gefühle, die mich davon abhielten, abschütteln.

Ich wollte so sehr dieses Mädchen sein. Dieses Mädchen, das nur den Moment kennt, den es gerade erlebt. Kein morgen. Kein gestern. Keine von der Gesellschaft eingepflanzten Gedanken, ob das jetzt “angebracht” ist, was sie gerade tut, ob es “schmutzig” oder gar “ekelhaft” erscheint.

In diesem Moment begriff ich, was mich an Kindern (wieder) so faszinierte. Nein, es ging bestimmt nicht um den Matsch. Die Szene erinnerte mich an das Zitat eines meiner Lieblingsautoren Patrick Rothfuss:

notw41

 

Die Welt um mich herum wird schneller. Immer schneller. Ich werde älter und alles, worum es geht, alles, wovon jeder immer spricht, ist das, was mal sein wird. Womit wirst du dein Geld verdienen? Wann zahlst du endlich in die Rentenkasse ein? Was willst du noch erreichen, wer willst du sein?
Und ich? Ich werde langsamer. Anstatt in dieser Leistungsgesellschaft mitzumachen, sitze ich still. Anstatt mich um schneller, höher und heiter zu sorgen setzte ich mich hin und höre auf meinen Bauch.

Nein, eigentlich ist das nicht ganz richtig. Nicht immer.

Ich mache mir sehr wohl Gedanken darüber, wer ich in den Augen der anderen bin und wohin ich gehen möchte. Jeden Tag mache ich mir sorgen um die Zukunft, und viel zu oft erschlagen mich diese Sorgen. Sie erschlagen mich bis ich wieder an dem Punkt bin, an dem ich Bewegungsunfähig bin und nichts tue.
Aber eines weiß ich ganz sicher: Der Ausweg aus meinen Ängsten, aus meiner Misere, ist nicht der Blick in eine hoffentlich glorreiche Zukunft, in der “alles besser sein wird”. Wir verschwende Tage, Wochen, Monate damit, zu laufen, einer Zukunft entgegen, in der “alles besser sein wird als jetzt” – anstatt mich auf das einzige zu konzentrieren, was ich wirklich leben kann: Das Jetzt. Genau hier, dieser Augenblick. Den kann ich leben. Die Zukunft kann ich nicht leben, die Vergangenheit kann ich nicht leben. Ich will nicht mein Leben lang den gegenwärtigen Augenblick hassen und immer nur hoffen, dass irgendwann alles besser wird.

Ich will Augenblicke leben können, immer. Und wenn das für den Rest der Welt bedeutet, ich sei ein Kind, dann heißt das zumindest, dass ich glücklich bin. Kinder sind das beste Beispiel dafür, wie wunderbar die kleinsten Nichtigkeiten im Leben sein können, betrachtet man sie ohne das, was einmal war und ohne das, was einmal sein wird.

Natürlich müssen wir alle Geld verdienen. So funktioniert diese Welt nunmal. Aber ich werde einen Teufel tun und mein Leben davon bestimmten lassen, was andere von mir erwarten und wie mich andere sehen. Ich will seinUnd das kann ich nur, wenn ich endlich herausfinde, was ich eigentlich wirklich will. Oder ob das, was ich will, was ich “erreichen” will, eigentlich nur eine trügerische Vorstellung dessen ist, was die Gesellschaft von mir erwartet.

moment


 

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