“Der Laden da, der gehört Olaf. Ein ziemlich bunter Hund in der Stadt, den kennt eigentlich jeder hier. Lars – weißt schon, von dem hab ich dir erzählt – der arbeitet da vorne in der Bar hinter der Theke. Am DM haben wir uns früher immer getroffen, jeden Abend um acht, dann stand hier diese riesige Schar an Emos rum. Auf der Wiese vor dem Einkaufszentrum hockte man auch immer rum, weil… na, sehen und gesehen werden.” Sie bleibt stehen, blickt sich kurz um und zeigt dann auf einen unscheinbaren Hauseingang. “Und hier auf der Treppe hab’ ich mal mit Lars geknutscht.”
“Du hast mal mit Lars geknutscht?”, frage ich lachend. Nicht, dass ich Lars persönlich kenne, aber das ist einer der vielen Namen ohne Gesichter, die ich mir merken konnte. “Ach Angela, hier hat jeder mal mit jedem geknutscht. Damals war Lars noch mit Svenja zusammen, glaube ich…”
Achja, Kleinstadt, ich vergaß.
Ich bin noch nichtmal eine Woche hier und habe schon jetzt das Gefühl, ich kenne jede Straße und jedes Gesicht. Sogar ich treffe auf der Straße schon Leute, die ich hier kennengelernt habe. Man läuft sich eben über den Weg, ob man möchte oder nicht.

Aber so schön einige Jugenderinnerungen auch sein mögen, an viele Orte, viele Situationen, viele Personen hier möchte sich meine Freundin eigentlich nicht mehr erinnern. Weil jeder redet. Früher und heute, daran hat sich nichts geändert, sagt sie. In einer Kleinstadt verbreiten sich Gerüchte rasend schnell, und bevor man etwas richtigstellen kann, steht es schon verdreht an jeder Hauswand. Da hat man seinen Ruf schnell weg. Und wenn ich eines über diese Stadt hier in der kurzen Zeit gelernt habe, dann, dass jeder mal was mit jedem hatte – und jeder davon wusste.

Ich kenne Chrissy mittlerweile seit fast neun Jahren und ich habe es nie geschafft, sie auch nur ein einziges mal hier in ihrer Heimat zu besuchen. Sie kam immer nur mich besuchen, mein Freundeskreis wurde auch ihrer und nach fast einem Jahrzehnt “Fernbeziehung” zog sie dann endlich nach München. Weil wir ohne einander gar nicht mehr können. Letzte Woche musste sie dann für ein zweimonatiges Praktikum zurück nach Aschaffenburg. Nur vier Tage hat es gedauert, da hingen wir Nachts schon an unseren Handys, beide heulend, weil meine Heimat ohne Chrissy irgendwie keine mehr ist und weil sich ihre Heimat schon nach so kurzer Zeit wieder von ihrer schlechtesten Seite zeigte. Also bin ich ihr hinterher gefahren. In München hält mich gerade sowieso nichts.

Und Aschaffenburg ist schön. Wirklich. Alles ist so niedlich, alles ist in ein paar Minuten zu Fuß erreichbar, eine schmale, irgendwie romantische Fußgängerzonen mündet in die Andere, und: 6 Sushi kosten nur 1,60€. Die Wohnung, in der wir zusammen hausen ist hell, groß, ebenfalls direkt in einer Fußgängerzone und aus dem Wohnzimmerfenster kann ich die Leute beobachten, wie sie im Café unten drunter jeden Morgen Sonne, Zeitung und Kaffee genießen. Jedes mal, wenn ich den Schlüssel in die Haustüre stecke, liebäugel ich mit der Pratizia Pepe Tasche, die im Schaufester der Modeboutique unter unserer Wohnung steht. Wisst ihr, was ich bei mir Daheim sehe, wenn ich aus dem Fenster blicke? Die graue Wand unseres Müllhäuschens.

Ich wünschte, ich könnte Chrissy etwas von meinem jungfräulichen Blick auf diese schöne Stadt abgeben, damit sie nicht nur das sieht, was sie unglücklich macht. Das Haus eines Mannes, der ihr nicht nur einmal das Herz brach. Lauter Menschen, die über sie reden, weil sie wieder irgendwas gehört haben oder Dinge erzählen, die ein halbes Jahrzehnt her sind. Für mich ist all das total Fremd. In der Großstadt aufzuwachsen bedeutet, dass man ständig neue Leute kennenlernt. Ich meine, ich komme auch aus dem Umkreis von München, bin aber in der Stadt zur Schule gegangen. Ich bewegte mich auch eine Zeit lang in diesem Landkreis-Freundeskreis, wo irgendwie auch jeder mal mit jedem zusammen war und es ständig irgend ein Drama gab – aber dadurch, dass ich in der Stadt zu Schule ging, konnte ich dort immer wieder ausbrechen. Wenn man seinen Musikgeschmack ändert, trifft man neue Leute. Wenn man die Schule wechselt, trifft man neue Leute. Jeder Weirdo findet seine Nische und einen Platz, wo er hingehört, wo er sich wohlfühlen kann. In einer Kleinstadt aber wird man immer wieder mit den gleichen Leuten konfrontiert, ob man möchte oder nicht. Auch das kann schön sein – Freunde seit der Kindheit – aber sobald du anders bist, nicht in die Reihe passt, kann es ekelhaft werden. Oder du begehst einen Fehler (wer ist als Teenager auch schon verliebt und gleichzeitig vernünftig) und er wird dir ewig hinterherhängen. Als hätte man dir auf die Stirn tätowiert, in wen du dich irgendwann mal versehentlich verliebt hast.

Warum ich euch das alles erzähle? Weil ich mir wünschte, dass jeder von euch seinen Platz findet. Es gibt Leute, die lieben ihre Stadt, wachsen dort auf und möchten dort alt werden. Und es gibt die, die immer das Gefühl haben, nicht dazuzugehören – und auch für euch gibt es einen Ort, wo ihr euch wohlfühlen könnt, ihr müsst ihn nur finden. Wenn jemand schlecht über dich redet, behalte immer im Hinterkopf, dass du die ganze Scheisse irgendwann hinter dir lassen kannst.

Und genau deswegen bin ich gerade hier. Weil ich mal wieder ausbrechen musste, um meine Heimat zu finden – und mein Heimat ist gerade Chrissy. Manchmal sind es nämlich nicht Orte, sondern Menschen, die dir ein Zuhause geben.

Und gemeinsam schmeckt der Äppelwoi echt sau lecker.

 

Home is not a place, it's people.