Irgendwann ende Juni 2014

Ich ließ mein Gepäck liegen, ging ein Stück weg von den Anderen uns setzte mich hinter einer Steinsäule auf den Boden. Ich bin kein Kind von Traurigkeit, aber wenn’s ums heulen geht, bin ich kleines Mädchen. Auf einer Gefühlsskala von 1 bis 10, auf der eins das traurigste und zehn das Fröhlichste ist, weint ein normaler Mensch entweder bei einer 2 oder einer 8. Meine Tränendrüse drückt bereits bei einer 6 oder einer 4. Wie ich dort zusammengekauert, durchnässt und verdreckt auf dem Asphalt saß, rauschte ich runter auf eine wackelige 2,5 und schluchzte als sei der Weltuntergang nahe.

Vor über fünf Stunden hatten wir das zauberhafte Festivalgelände verlassen und standen etwas später zusammengequetscht zwischen einer Meute Menschen – die mit der Realität wohl genauso wenig umgehen konnten wie wir – auf dem Flugplatz, wo uns er Bus nach Berlin abholen sollte. Und gerade als ich mich beschwere wollte, dass mein Rucksack mich umbringt, fing es plötzlich aus dem Nichts an zu stürmen und zu schütten. Als wollte uns die Welt sagen, dass die unbeschwerte Zeit nun endgültig vorbei ist. Die Realität trat uns mit einem Roundhousekick ins Gesicht, stapelte uns übereinander und verrichtete zum Abschluss sein Geschäft auf uns. Und keiner konnte sich unterstellen – weil es einfach nichts in der Nähe gab. Außerdem wollte keiner seinen wertvollen Platz in der Schlange wieder aufgeben. Alle mussten in diesen Bus. Also standen wir dreißig Minuten bei strömendem Regen und Hagel auf einem riesigen Rollfeld, bis wir im Bus saßen waren wir alle bis auf die Knochen nass. Inklusive unserem Gepäck und all unseren Wechselklamotten. In Berlin am Busbahnhof angekommen, genau fünf Minuten nachdem unser Bus nach München abfuhr, hat keiner mehr gesprochen. Es gab nichts mehr zu sagen, und eigentlich haben wir uns sowieso nur angekeift.

Ich hatte meinen inneren Frieden die Wochen vor dem Festival mit so viel Mühe aufgebaut. Ich war glücklicher, zufriedener und ausgeglichener als jemals zuvor. “Du bist irgendwo hier oben”, hatte mein Freund Max zu mir gesagt und dabei wild mit den Armen in der Luft herumgefuchtelt. “Aber du musst wieder hier hin zurück”, er legte seine Hände übereinander und drückte sie mir auf den Bauch. Das war im Mai. Ich hatte mir seine Worte zu Herzen genommen und wieder zu mir selbst gefunden, alles negative in meinem Leben schlichtweg ausgeblendet und mich nur noch mit positiven Menschen umgeben.

Und wie ich dann an dieser Säule saß und mich selbst umarmte, drohte all das wieder aus mir rauszubrechen, fortzufliegen und sich an die Minuspole in meinem Leben zu heften. Eigentlich war es gar nicht die Tatsache, dass wir hier nun sieben Stunden festsitzen mussten und ich mich bestimmt erkälten würde. Irgendwie war es alles.
Ich wünschte mir so sehr wieder am Zeltplatz zu sitzen, den Jungs aus Kiel beim Quatschen zuzuhören, nordisches Bier am Lagerfeuer zu trinken und am nächsten Tag von den Bachstelzen geweckt zu werden. Ich wusste nichtmal mehr, ob ich die Blaubären je wieder sehen sollte. Abschiede sind so scheisse, erst recht wenn sie mit einer Pechsträhne einherkommen.

Mein Kumpel, von dem ich dachte er sei sicherlich unendlich wütend auf mich, kam zu mir, kniete sich vor mich hin und legte seine Hand auf meine. “Wir fahren jetzt zu einem Kumpel von mir, bestellen was zu essen und kommen später wieder.” Er war nicht wütend, nur auch total fertig. Wir fuhren gemeinsam nach Neukölln, ich bestellte mir Tofu mit Erdnusssoße, durfte sogar duschen und föhnte meine Klamotten für die Reise trocken. Als ich es mir auf dem Sofa bequem machte und die Augen schloss dachte ich noch einmal zurück an den letzten Abend, als wir uns zu siebt in ein Vier-Mann-Zelt quetschten und sich J. zum ersten mal an meine Seite legte mit den Worten: “Ich mag heute mal neben dir schlafen”.

Ein Jahr später wache ich an einem Samstag Morgen auf und J. liegt immer noch neben mir. Als hätte er sich seit dem Abend im Zelt niemals wieder wegbewegt – und eigentlich hat er das auch nicht. Ich hatte damals Angst, dass meine ganze Selbstfindungsphase irgendwie nur Einbildung gewesen sein könnte. Ich hatte mich durch eine einzige beschissene Situation wieder zurückwerfen lassen. Heute weiß ich, dass ich damals nur Angst davor hatte, wieder die alte Angela zu werden. Ich wurde nie wieder die alte Angela. Auch wenn ich in manchen Situationen immernoch glaube die Welt würde untergehen, obwohl es eigentlich nur ein bisschen regnet, bin ich doch nicht mehr der Mensch der ich vor zwei Jahren war. Manchmal, wenn ich mir alte Fotos ansehe denke ich: “Ach, damals. Da wusste ich Dieses und Jenes noch nicht, habe Dies und Das noch nicht getan und dachte So und So noch nicht.”

In weniger als zwei Wochen fahre ich wieder auf die Fusion. Und ich glaube, ich habe mich sogar NOCH ein Stück weiter entwickelt. Wahrscheinlich ist man niemals der gleiche Mensch wie am Tag zuvor, und vielleicht blicke ich in zwei Jahren wieder auf den heutigen Tag zurück und denke mir: “Ach, damals. Wie wenig ich wusste.”

fusion_2