Manchmal denke ich immer noch an Emrah. Eigentlich kannten wir uns nie besonders gut, er war halt da, ein Klassenkamerad, der schusselige Türke mit dem Afro, darunter ein Kopf voller Flausen. Oder sagen wir, seine Kumpels haben ihm die Flausen in den Kopf gepflanzt, zumindest hatte ich immer das Gefühl, er sei eigentlich vernünftig, ließ sich aber zu jedem Schwachsinn überreden. Kiffen auf dem Schulklo zum Beispiel. Er war einer dieser notorischen Zuspätkommer, aber irgendwie hatte er eine so charmante, dusselige Art, dass kein Lehrer ihm lange böse sein konnte. Ich saß neben meiner ersten großen Liebe ganz hinten rechts im Klassenzimmer, Emrah saß vor mir. Manchmal steckte ich ihm meine Stabilos in den Afro, dann sah er ein bisschen aus wie ein Igel. Ein bunter Igel. Ja, ein bunter Igel war er, mehr weiß ich nicht mehr über ihn. Und, dass ich ihn mochte, das weiß ich noch.

Es gibt da so ein Video von Emrah. Ich bekam damals, mit sechzehn (mein Gott, das ist ZEHN Jahre her!) einen Camcorder zum Geburtstag und fing an meine Umgebung zu filmen wann immer ich konnte. Für die Kids heute ist es was ganz normales, Momente mit einer Kamera festhalten zu können. Für uns war das etwas ganz besonderes. Ich habe eine bewegte Erinnerung an meine Realschul-Abschlussfahrt in Neapel! Ich bin so froh über diesen ollen Camcorder, der heute natürlich schon lang nicht mehr ist.
Das verwackelte Video zeigt meine liebste Schulfreundin und mich, wie wir durch die Bungalows am Campingplatz laufen und kichern, ich filme die Aussicht auf Sorrent und rede mit einer Stimme die ich heute nicht mehr von mir kenne. Ich habe so einen seltsamen Ghetto-Slang drauf, mann klingt das furchtbar. Jedem, dem wir die Kamera vor die Nase halten, streckt instinktiv seine Hand aus um sie zu verdecken. Ein Schnitt. Emrah steht vor der Kamera und hält sich seine Hand vor sein Gesicht. “Wieso versteckst du dich?”, frage ich. Er grinst nur doof, dreht sich um und verlässt unser Bungalow. Ich laufe mit der Kamera hinterher und kurz bevor er um die Ecke aus meinem Blickfeld verschwindet hebt er die linke Hand zu einem Victory-Zeichen und sagt: “Peace out!”

Ein paar Monate später. Ich betrete unser Klassenzimmer und halte Ausschau nach meinem Freund, bestimmt kommt er wieder zu spät, er ist auch einer von denen. Allerdings ohne dusseligen Charme, er ist einfach nur rebellisch. Mein Blick schweift über meine Mitschüler. Irgendwie ist es seltsam still. Irgendwas ist anders. In der Mitte hat sich eine kleine Traube gebildet, sie hängen über einer der vollgekritzelten Schulbänke und lesen irgendeinen Zeitungsartikel. Ein Mädchen sagt etwas auf türkisch, ich verstehe nichts, aber ihre Stimme versagt mitten im Satz. Neugierig stecke ich meinen Kopf zu den anderen und frage, was denn los sei. Und plötzlich reden alle durcheinander. “Hast du es noch nicht gehört?” – “…um einen Baum gewickelt” – “Emrah” – “…Autounfall”. Mein Blick fällt auf die aufgeschlagene BILD-Zeitung, die mitten auf dem Tisch liegt. “Fahranfänger, 18, ringt mit dem Tod” lautet die Überschrift. Das Foto darunter zeigt ein total zerstörtes Auto, es sieht tatsächlich so aus, als hätte es sich um den Baum gewickelt. Aus dem hinteren Fenster läuft Blut, viel zu viel Blut.

Die Szene aus Neapel, die nicht länger als zehn Sekunden dauert, flimmert auf einer riesigen Leinwand in mitten der mit hunderten von Menschen gefüllten Aula. Im Hintergrund läuft Boyz 2 Men, ein wunderschöner Song, aber ich erinnere mich heute nicht mehr daran. “Peace Out”, hallt es durch den Raum. Die Stille, die diese zwei Worte hinterlassen, ist lang und endlos. Sie drückt auf uns herab und setzt sich jedem dieser Menschen hier auf die Schultern. Und lässt sie hängen. Nur hängende Schultern, nur hängende Köpfe, und ich muss schon wieder schrecklich weinen, um den Jungen mit dem Afro, den bunten Igel. Es folgt ein katholischer Gottesdienst, gleich im Anschluss dreht sich die gesamte Menge gen Mekka und betet so, wie Emrahs Familie es tut. Ich habe niemals wieder gesehen, wie zwei Religionen so miteinander verschmelzen.

Manchmal denke ich an Emrah. An den leeren Platz vor mir, der das ganze Jahr über mit Blumen geschmückt und mit Liebesbotschaften bekritzelt wurde. Ich frage mich, was aus Emrah geworden wäre. Ob er heute auch ein Smartphone hätte und Whatsapp Nachrichten tippen würde. Natürlich würde er das, jeder tut es. Ich denke in den banalsten Situationen an Emrah und wie verrückt es ist, dass er all das nicht mehr miterlebt. Seine Welt hat aufgehört sich zu drehen, damals, 2005.

Manchmal denke ich an Emrah. Ich denke daran, wie fürchterlich die Zeit nach seinem Tod wohl für seine Familie sein musste. Ich denke daran, wie ich ihm Stifte in den Afro steckte, wie er zum Kiffen aufs Schulklo schlich und wie er sich die Hände vor die Augen hielt, als ich ihn filmte. Und dann denke ich, wie scheisse nochmal glücklich ich sein kann, dass ich seitdem niemals wieder eine solche Trauerfeier miterleben musste.

Ich bin hier. Mit alle denen, die ich liebe.