“Da gab’s auch mal so eine bei uns auf’m Dorf. So ‘ne richtige Schlampe”, sagt er, und sein Gegenüber nickt verständnisvoll. Verständnisvoll, eben so, als würde er ihn verstehen. Er weiß wohl was eine “Schlampe” ist, da bedarf es natürlich keiner Nachfrage. Ich hatte mich eigentlich schon längst aus dem Gespräch ausgeklinkt und weiß gar nicht so wirklich, was die Vorgeschichte dazu war. Ich wende mich der vorbeiziehenden Welt hinter dem Zugfenster ab und blicke den einen meiner Kumpels neugierig an, der gerade anfing, die Schlampen-Geschichte zu erzählen. “Wieso war sie denn eine Schlampe?” frage ich, und beide sehen mich mit diesem “Was kommt denn jetzt”-Blick an. Kurze Stille. “Naja”, sagt er, “da gab es beispielsweise mal die Geschichte von einem Kumpel von mir, der hatte Geburtstag, und sein bester Freund fragte das Mädchen, ob sie Lust hätte dem Geburtstagskind eine zu blasen. Hat sie gemacht, einfach so, auf der Toilette.”
“Und deswegen ist sie jetzt eine Schlampe?”
Die beiden sehen sich an, wahrscheinlich um abzuchecken, ob der andere gerade auch nicht kapiert, was ich eigentlich will. Vor ein paar Jahren hätte ich mir die Geschichte wahrscheinlich angehört, den Kopf geschüttelt und mir ebenfalls gedacht: “Was für ‘ne Bitch.”
“Machst du jetzt einen auf Luisa?”, fragt mich Kumpel Nummer Zwei nach der kurzen, verwirrenden Stille. Luisa ist eine gute Freundin von mir, die mir über die Jahre beigebracht hat, dass es auch als Mädchen absolut nicht falsch ist, seine Sexualität so auszuleben, wie man es gerne möchte. Ganz egal, ob man jetzt gerade eine Phase hat, in der man sich ausleben möchte oder jemand ist, der lange Zeit braucht, um mit seinem Partner ins Bett zu steigen. Es gibt eben Mädchen, die öfter mal Abends einen Fremden mit nach Hause nehmen. Genau so gibt es Mädchen, die so was niemals tun würden. Und trotzdem ist die eine keine Schlampe und die andere auch nicht prüde.
Ich falte mich mühselig aus meiner zusammengekauerten Stellung am Zugfenster, setze mich aufrecht hin und verspüre ein leichtes unbehagen in der Magengegend. Wir waren vor ein paar Stunden in die Heimatstadt von Kumpel 1 gefahren um dort feiern zu gehen, weil uns die eigene Stadt an diesem Wochenende furchtbar ankotzte. Wir sehen alle drei ziemlich durch aus, Gott sei Dank aber sind wir so gut wie allein im Zug.
“Naja, stellt euch mal vor, es wäre andersrum gewesen”, sage ich, ohne auf auf die Luisa-Anspielung einzugehen. Wieder blicken sich die beiden verständnislos an. “Stellt euch vor, es wäre der Geburtstag eines Mädchens gewesen, und ihre beste Freundin hätte einen Typen gefragt, ob er das Geburtstagskind bitte oral befriedigen möchte. Die gleiche Situation also, nur die Geschlechter getauscht. Ist der Typ, der das Geburtstagskind auf der Toilette beglückt, nun eine Schlampe?” Mittlerweile ist Verwirrungslevel Drölf erreicht. “Nein, ist er nicht”, sage ich bestimmend, “in der Situation wäre es wohl eher etwas, womit der Typ im Nachhinein bei seinen Kumpels angeben kann. Er hat’s ihr ja immerhin auf der Toilette besorgt. Andersrum allerdings ist das Mädchen, welches dem Typen einen geblasen hat, natürlich eine Schlampe. Weil es eben so ist. Weil man es sowas als Mädchen nicht so macht, als Junge allerdings ist es total in Ordnung.” Ich denke sogar noch weiter, allerdings ohne es auszusprechen: Womöglich wären letztendlich sogar Geburtstagsmädchen UND ihre Freundin die Schlampen. Gleich zwei auf einmal. Weil die eine danach gefragt und die andere es zugelassen hat. Was für eine verdrehte Welt.
Wir fangen an uns zu streiten, ich kann mich gar nicht mehr genau an die Argumente der beiden erinnern, nur, dass nichts davon einen Sinn ergab. Und ich weiß noch, dass dieses Streitgespräch beendet wurde, weil keiner der beiden mehr wusste, was sie sagen sollten. Ich hätte mir etwas anderes von meinen Freunden erwartet. Ein bisschen mehr Verständnis vielleicht, ein bisschen mehr die Fähigkeit, sich in andere reinzuversetzen. Trotzdem konnte ich keinem der beiden lange böse sein, eben weil ich weiß, wie ich selbst noch vor ein paar Jahren darüber dachte. Weil ich weiß, wie schwierig es ist, in solchen Situationen anders als die Gesellschaft zu denken. Er hatte was mir der, der und der. Also ist er ein Player, ein cooler Typ. Sie hatte was mit dem, dem und dem. Also ist sie eine Schlampe.

Ich würde mir wüschen, dass das Wort “Schlampe” komplett aus unserem Sprachgebrauch verschwindet. Für Weiblein so wie für Männlein. Kein Mann ist eine männliche Schlampe, weil er mit vielen Frauen schläft. Und keine Frau ist eine Schlampe, weil sie mit vielen Männern schläft. Leben und leben lassen, jedem das seine, akzeptieren und akzeptiert werden.

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