Ich biege aus irgend einem Grund wieder in die falsche Straße ein, dabei bin ich diesen Weg schon hundert mal gefahren. Eigentlich wollte ich das Paket, welches bereits seit einer Woche auf dem Beifahrersitz liegt noch wegbringen, aber auch das habe ich (mal wieder) vergessen, und wie es eben ist reichen diese beiden Kleinigkeiten aus um mich (mal wieder) selbst zu verfluchen. Zu spät bin ich außerdem, weil ich mich vorhin nur “ganz kurz nochmal hinlegen” wollte, und natürlich drei Stunden weggepennt bin. Ich fahre einmal im Kreis, bis ich die richtige Straße finde, parke vor dem Haus und klemme mir beim aussteigen meine Jacke in der Tür ein, was einen schönen, braunen Streifen hinterlässt. Eigentlich habe ich jetzt schon wieder keine Lust auf irgendeine soziale Interaktion, dabei hatte ich mich eigentlich auf diesen Abend gefreut, auf die Leute, die ich viel zu selten sehe und die schwarze Babykatze, von der ich bisher nur gehört habe. “Heute hast du gute Chance, sie mal zu sehen”, hat man mir gesagt. Babykatze, Babykatze, Babykatze, wiederhole ich in meinem Kopf während ich auf den Klingelknopf drücke, um Paket, Unpünktlichkeit, dreckige Jacke und nicht vorhandenen Orientierungssinn zu überblenden. Ich atme durch und setze ein Lachen auf, was sich irgendwie falsch anfühlt. Als die Tür aufgeht entspannen sich meine Gesichtsmuskeln schnell wieder, weil ich schon jetzt in ein ehrliches, freudiges Gesicht blicke. Im Wohnzimmer angekommen rufe ich ein “Hallo” in die Runde, mein Blick streift viele bekannte Gesichter bis ich hinten links auf dem Sofa auf einem ganz bestimmten hängenbleibe.

In diesen zwei Sekunden, in denen ich endgültig Paket, Unpünktlichkeit, dreckige Jacke und nicht vorhandenen Orientierungssinn komplett vergesse erinnere ich mich an einen Artikel in der Zeitung, den ich letztens gelesen habe. Es ging um Körpersprache und Mimik und wie man erkennt, dass sich der Gegenüber über dein Erscheinen wirklich und aufrichtig freut. Bekommt man nur ein müdes Lächeln und ein “Hallo”, ist es nichtmal halb so viel Wert, wie wenn dein Gegenüber die Augenbrauen hochzieht und dabei die Augen weit aufreißt. Ich stehe da, ziehe die Augenbrauen weit hoch und reiße die Auge auf und Beni sitzt da, zieht die Augenbrauen weit hoch und reißt die Augen auf. Mir schießen zusätzlich natürlich sofort die Tränen in die Augen, hier, im Wohnzimmer, vor allen Leuten. Ich kapiere nicht so ganz, warum ich plötzlich so übertrieben emotional reagiere, ob es daran liegt, dass meine Laune innerhalb von ein paar Sekunden von unten im Keller bis über die Wolken geschossen ist, oder ob ich einfach mit der Überraschung gerade nicht umgehen kann. Aber ich stehe da, zwischen all den erstaunten Gesichtern und mir kullern die Tränen über die Wange, als Beni mich ganz fest in den Arm nimmt und sich über mein bescheuertes glucksen lustig macht. Ich muss wie ein Vollidiot aussehen, erst einen Schuh ausgezogen, die dreckige Jacke immernoch an, lachend und weinend und lachend und weinend. “Die beiden haben lange zusammengewohnt”, höre ich jemand neben mir sagen.

Ich verbringe den Rest des Abends damit, mir Benis Geschichten anzuhören und erwische mich dabei, wie ich einfach nur glücklich damit bin, auf der Terrasse zu stehen und Beni und M. dabei zuzusehen, wie sie von einem blödsinnigen Gerede ins andere switchen. Keiner von beiden hat es verlernt ein Kindskopf zu sein, obwohl der eine bald Vater wird und der Andere auf die Dreißig zugeht. Alles wie früher, denke ich mir, alles wie immer.

Ein paar Stunden später sitze ich wieder Daheim in meinen vier Wänden, mit Sherry auf dem Arm und entschuldige mich bei ihr, dass ich nach anderer Katze rieche. Die Babykatze hatte mich nämlich tatsächlich besucht. Ich erzähle ihr, wie ich Beni heute getroffen habe und vor allen Leuten angefangen habe zu heulen, weil ich erst in diesem Moment wieder gemerkt habe, wie sehr ich ihn eigentlich vermisse. Und wie wenig Zeit ich momentan für alles und jeden habe. “Du hast mich immer noch nicht besucht”, hat er gesagt, und ich schäme mich jedes mal wieder dafür, dass es so ist. Ich treffe in letzter Zeit so viele Leute von früher, die ich irgendwie aus den Augen verloren habe und jedes mal nehme ich mir vor, dass wir uns ganz dringend treffen müssen. Und jeden Montag merke ich wieder, dass ich gar nicht weiß, wann ich das machen soll. Am Wochenende möchte ich meine Zeit mit demjenigen verbringen, den ich nur am Wochenende sehen kann, da will ich quality time mit meiner Person und selbst das haut nicht immer so hin, wie ich es gerne möchte. Unter der Woche bin ich oft bis Abends nicht fertig mit Arbeiten, ich bin schon froh, wenn jemand Zeit hat, mich Mittags für eine Stunde zu besuchen. Ich krieg einfach nicht mehr alles und jeden unter einen Hut, das hat das Erwachsenwerden wohl so an sich. Früher hatte ich alle Zeit der Welt, aber keine Ahnung davon.
Manchmal wünschte ich, der Tag hätte achtundvierzig Stunden, oder zumindest dreißig, damit die sinnlose Schlafenszeit wegfällt und ich mich mehr auf die lieben Leute in meiner Umgebung konzentrieren kann. Aber stattdessen sitze ich hier, um 10 Uhr an einem Samstag Abend, habe die Party zu einer Uhrzeit verlassen zu der ich früher gerade mal angekommen wäre – weil ich morgen zu einem Familienfest fahre und noch ein bisschen was arbeiten muss. Und selbst jetzt werde ich nicht alle schaffen bis mich die Müdigkeit einholt. Heißt: Sonntag Abend, nach dem Fest, habe ich wieder keine Zeit.

Ich hätte gerne einen Zeitumkehrer. So hätte ich heute länger bleiben können, mir noch viel mehr Quatsch von Beni anhören können und trotzdem alles Andere erledigt. Dann hätte ich sogar Sonntag Abend noch Zeit gehabt für jemanden, den ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe. Aber leider bin ich weder die schlaueste Hexe meines Alters, noch habe ich ein besonders guten Draht zu Professor McGonagall.

Verdammt.