Heute lese ich euch meinen Sonntagspost vor. Wer also nicht selbst lesen möchte – drückt einfach auf play.

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Ich kann mich noch ganz genau an diesen Tag erinnern. Es ist ein Dienstag Nachmittag. Ich sitze an einem schönen Sommertag an meinem Computer und unterhalte mich in irgend einem Chatroom mit einem Mädchen, dass ich nicht kenne. Chatten war damals noch etwas neues, spannendes und die Internetwelt noch so viel kleiner als heute. Meine Eltern ließen mich für eine gewisse Zeit am Tag meinem neuen Hobby nachgehen und so nutzte ich jede Minute aus, die ich auf Webseiten surfen und mit Fremden Menschen chatten durfte. “Gib aber niemals etwas persönliches von dir Preis”, hat mir mein Vater immer gepredigt. Das sei viel zu gefährlich.

“Oh Gott, du musst sofort den Fernseher einschalten!” poppt es in dem kleinen privaten Chatfenster auf. “Nee, der ist im Wohnzimmer”, tippe ich, “ich mag jetzt nicht runter gehen.”
“Nein ehrlich, das musst du dir ansehen!” bekomme ich als Antwort. Ich habe wirklich keine Lust meine kostbaren Internet-Minuten zu vergeuden und meinen PC zu verlassen, also schalte ich das Radio ein. Ich setze mich wieder zurück an meinen Tisch, und gerade als ich wieder anfangen will zu tippen realisiere ich, was der Nachrichtensprecher da gerade erzählt. Ich starre auf meine Stereoanlage, als ob ich dadurch mehr mitbekommen würde. Als ob der Moderator seine Meinung noch mal ändern würde, wenn ich nur genauer hinhöre. Er ändert sie nicht.

Meine neue Chat-Freundin ist längst vergessen. Ich lese noch ein “Schaust du jetzt Nachrichten? Ist das nicht schrecklich?”, bevor ich ohne ein weiteres Wort die Treppen runterrenne, mich auf’s Sofa setzte und den Fernseher einschalte. Ich sitze kerzengerade da, halte mich an der Fernbedienung fest und starre wie in Trance auf die Flimmekiste vor mir.

Es ist kurz nach 15 Uhr. Ich sehe die beiden Türme des World Trade Centers im Fernsehen, einer davon brennt bereits, und in dieser Sekunde fliegt ein Flugzeug in den Turm daneben. Ich sitze nur da und starre. Und starre. Das ist kein Film, das ist real, sage ich mir immer wieder. Ich sitze allein im Wohnzimmer an diesem wunderschönen Septembertag, die Terrassentür ist weit geöffnet und die Vögel zwitschern als ob nichts geschehen wäre. Ich glaube, meine Mutter ist einkaufen. Mein Vater in der Arbeit. Wo mein Bruder ist weiß ich nicht.
“Wir sehen Menschen aus den Türmen springen”, sagt die Nachrichtensprecherin, und irgendwie habe ich das Gefühl ihre Stimme zittert. Auch ich sehe Menschen aus den Türmen springen. Das passiert genau jetzt, in dieser Sekunde in der ich hier sitze.

Ich bewege mich bestimmt eine ganze Stunde nicht. Die Fernbedienung in meinen Händen ist bereits ganz feucht vom Schweiß. Ich bin so verwirrt, dass das einzige, auf was ich mich besinnen kann mein eigener Atem ist. Und wie ich die Luft in meine Lungen einsauge und wieder auspuste denke ich daran, wie viele Menschen dort in diesem Turm gerade ätzenden Rauch einatmen, während ich die frische Luft von Draußen in mir spüre.
Und dann – dann sehe ich live im Fernsehen wie der erste Turm binnen weniger Sekunden zusammenbricht. Ich gebe ein Wimmern von mir, lass die Fernbedienung fallen, ziehe meine Knie zu mir und fange bitterlich an zu weinen. Mir wird bewusst, dass genau in dieser Sekunde tausende Menschen ihr leben verlieren. Dass abertausende Menschen ihre Liebsten verlieren, und ich sitze hier und sehe zu. Und kann nichts tun. Ich kann niemanden in den Arm nehmen der es bräuchte, ich kann nur hier sitzen und weinen. Also weine ich. Aus Verzweiflung und Unverständnis, und für all die Menschen, die nun nicht mehr sind oder niemanden mehr haben. Es sterben Väter, Mütter, beste Freunde, neue Lieben und letzte Hoffnungen. All das verpufft vor meinen Augen zu Staub, zu so viel Staub und Asche. Und ich habe das Gefühl, dass ein Stück meines kleinen, noch nichtmal Teenager-Herzens, abbröckelt und mit ihm ein noch größeres Stück Glauben in die Menschheit für immer verloren geht.

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Dreizehn Jahre und ein bisschen später sitze ich immer noch an meinem Computer und chatte gerade auf Facebook mit einem Kumpel. “Oh Mann Angela,” schreibt er, “ich glaube ich kann jetzt verstehen was du damit meinst, dass du keine Nachrichten gucken kannst. Ich habe gerade nach zehn Minuten meinen Fernseher wieder ausgeschaltet, weil so weinen musste.” Ich lese seine Worte und weiß jetzt schon, dass sich meine gute Laune  von diesem Tage bald wieder verflüchtigen wird.

“Oh nein, was ist denn jetzt schon wieder passiert?”
“Naja, Frankreich.” schreibt er.

“Naja, Frankreich”, wiederhole ich in meinem Kopf und tue das, was ich seit dem Tag vor vierzehn Jahren verabscheue: Ich schalte meinen Fernseher an um Nachrichten zu gucken. Ich weiß, dass ich es tun muss, dass ich nicht immer die Augen vor allem verschließen kann nur weil ich ein scheiss Sensibelchen bin. Also lass’ ich mich wieder vom Schrecken dieser Welt berieseln. Berieseln, was für ein falsches Wort am falschen Platz. Er fällt eher auf mich herab wie Faustgroße Hagelkörner in einem Hurricane. Erschlagen, nicht berieseln.

Ich fühle mich immer wieder schlecht deswegen. Weil ich so oft nicht mitreden kann, wenn über das Weltgeschehen diskutiert wird. Ich sitze dann in solchen Runden und höre zu, schweige, und lass mich erschlagen. Immer wieder wenn ich mir fest vornehme mich zu informieren um endlich mal wenigstens mit ein bisschen Allgemeinwissen glänzen zu können scheitere ich an der viel zu zart besaiteten Geige meiner selbst. Meine Saiten reißen bereits wenn man nur einmal den falschen Ton trifft, und leider kann ich nicht Geige spielen. Ich bewege mich also weiter in meiner heilen Welt, in der allerhöchstens mal ein bisschen Liebeskummer oder Selbstzweifel existieren. Ich werde wohl niemals mit Wissen über Weltgeschehen oder Politik angeben können, höchstens mal mit gefährlichem Halbwissen über Mode oder Musik, eben die schönen Dinge im Leben.

Ich kann nicht ändern, was gerade in Frankreich passiert ist. Aber finde, wir alle sollten uns in Zeiten von Terror und Tod immer wieder bewusst machen, was für ein Glück wir haben, und wie dankbar wir für all die Dinge sein können die uns eigentlich so selbstverständlich erscheinen. Ich selbst habe das im September gelernt, damals, als ich zwölf war.
Manchmal, wenn ich mich Abends in mein Bett kuschle, noch mal das Kissen austausche weil mir ein anderes bequemer ist mache ich mir bewusst, in was für einem Luxus ich lebe. Ich kann mir mein Kissen aussuchen, während andere nicht mal eine Decke besitzen. Ich gehe in den Supermarkt gegenüber und kaufe mir Bio-Orangen, weil ich es kann. Ich kaufe mir eine Tasche für 300€, weil es mich glücklich macht und ich für die Lebensnotwendigen Dinge trotzdem noch genug Geld habe. Ich tanze am Wochenende, während andere auch da arbeiten müssen, um sich normale Orangen leisten zu können. Ich färbe mir meine Haare Lilablassblau, weil ich sonst keine Probleme habe. Ich sitze an einem Tisch mit beiden Elternteilen, die sich auch nach über zwei Jahrzehnten noch verliebt in die Augen sehen, mit meinem Bruder rechts neben mir. Das schönste aber ist, dass ich noch niemals den Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen hatte. Meine Welt ist gesund und lebt. Ich habe so ein verficktes, scheiss Glück, und ich fluche an dieser Stelle, weil ich irgendwie das Gefühl habe es würde dem, was ich zu sagen habe, vielleicht ein bisschen mehr Ausdruck verleihen. Seit verdammt noch mal dankbar für das, was ihr habt. Es ist okay nach mehr zu streben, aber lasst Neid und Missgunst links liegen. Glaube an das, was du glauben willst, lass deinen Glauben dich zu einem besseren Menschen werden der sich um andere sorgt anstatt sie in die Luft zu jagen. Schmeiss den Apfel mit der braunen stelle nicht weg, ein Anderer stirbt vielleicht gerade, weil er eben dieses Stück Apfel gebraucht hätte. Gib so viel du kannst, liebe, tanze und lass Gewalt für dich ein Fremdwort werden, in egal welcher Sprache. Lebe, und lass leben. Hab’ einen Gott, hab’ mehrere Götter oder hab’ gar keinen, aber repektiere den Glaube oder nicht-Glaube deines Gegenüber.

Ich bin der Meinung, dass diese Welt eine sehr viel bessere wäre, wenn wir alle nur ein bisschen mehr dankbar und ein bisschen mehr offen wären, und fremden Menschen ohne Vorurteile und nur mit dem große L-Wort begegnen würden.

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