Die Schlange am Frauenklo ist mir viel zu lang, also quetsche ich mich vorbei in Richtung Männerklo, nur schnell Frisur checken. Volumen, oh Volumen, wo gehst du nur immer hin. Ich knete mir wie immer planlos durchs Haar und murmle ein “wad is dat denn…” vor mich hin.
“Sieht spitze aus!”, sagt der große blonde Typ, der gerade noch seinen Hosenstall wieder zuzieht und dabei doof grinst. “Das musst du ja jetzt sagen”, antworte ich, grinse ebenso doof zurück und drehe um. Bringt ja eh nichts.

Eine halbe Stunde später sind wir zu fünft auf dem Weg zu mir nach Hause – inklusive Luis, der große Blonde aus der Toilette. Alex flüstert mir ins Ohr, warum der denn jetzt bitte mit zu mir nach Hause kommt, ich soll nicht immer so ein Samarita sein. “Sein Bus kommt erst in zwei Stunden”, fauche ich, “sei mal nicht so, das is’n Lieber, ich weiß das. Außerdem hab’ ich gleich klargestellt, dass ich nicht zu haben bin und ihr alle bei mir übernachtet.” Ein bisschen hat er ja recht. Ich kenne diesen Luis gar nicht, aber irgendwie tat er mir leid und wir haben uns draußen so unkompliziert unterhalten. Er war nett, nicht aufdringlich, seine Freunde schon weg und es war meine Idee, dass er die beiden Stunden die er auf den Bus hätte warten müssen auch bei mir verbringen kann. Natürlich hätte ich ihn nicht mit Heim genommen wenn ich allein gewesen wäre. Es war eben eines dieser Bauchgefühle.

Meine drei Freunde nehmen gleich mein Bett für sich ein, kuscheln sich irgendwie zusammen und sind recht schnell eingedöst. Luis iPod steckt an meinen Boxen und spielt ganz leise Bonobo. Wir setzen uns am Boden auf die Gästematratze, rauchen und quatschen über Gott und die Welt. Ich erzähle von meinem Freund, er von seiner großen Liebe, die seit Jahren unerreichbar ist. Es gibt keine peinliche Stille, wir fließen von einem Thema ins Nächste und zwischendurch merke ich wieder, dass mein Bauchgefühl mich nicht getäuscht hat und ich selten einen so angenehmen Gesprächspartner hatte. Ich weiß nicht, wie lang wir dort saßen und quatschten, bestimmt ein, zwei Stunden. Es wird bereits hell als unsere Köpfe zur Seite sacken und wir im Sitzen einschlafen.
Den Bus haben wir beide vergessen.

Um 10 Uhr wache ich mit einer fiesen Genickstarre auf. Ich kenne mich, weiterschlafen kann ich nun sowieso nicht mehr. Ich schüttle Luis kurz ein bisschen und bugsiere ihn in die Horizontale, nicht, dass er später genau so Rückenschmerzen hat wie ich. Er murmelt irgendwas, zieht sich Sherrys Lieblingsdecke über die Schultern und schläft weiter. Hoffentlich hat er keine Katzenallergie.

Sechs Stunden später stehen Luis, Chrissy und ich am Eingang dieses Open Airs, eine Spontanentscheidung, weil sich die Sonne nach Wochen mal wieder blicken ließ. Wir schaffen’s sogar noch alle drei kostenlos reinzukommen, 5 Minuten vor Einlassstop. Luis hat sich auch spontan dazu entschlossen mit uns zu gehen, weil er bei dem Wetter auch keine Lust auf Daheim hatte. Vorgestellt wird er als “Luis, der Typ den wir gestern kennengelernt haben und immernoch mit dabei ist”. Irgendwie passt er so gut zu uns. Fast so, als sei er immer schon dabei gewesen.

Das Open Air ist wundervoll. Als ich von meinem kurzen Abstecher zur Tanzfläche zurück zu unserem Sonnenplatz hüpfe guckt Luis geistesabwesend auf den Volleyballplatz gegenüber. “Was ist los?”, frage ich besorgt und setze mich wieder neben ihn. Er sieht zu mir rüber, seufzt laut und legt die Hände in sein Gesicht. “Luis, was ist los?” hake ich nach und lege meinen Arm um seine Schulter.
“Meine Mama hat gerade angerufen. Mein Opa liegt im sterben.”
Die Welt um uns rum wird still. Ich habe für solche Situationen normalerweise niemals die richtigen Worte, aber aus irgend einem Grund weiß ich, was ich nun sagen muss.
“Glaubst du ans Schicksal?” frage ich und reiße ihn damit ein bisschen aus seinen Gedanken. “Wie meinst du?” fragt er verwirrt.
“Guck mal. Du bist jetzt gerade hier, an diesem Ort. Guck dich doch mal um. Die Musik ist wunderbar, das Wetter ist perfekt. Warum bist du hier? Warum habe ich mich gestern dazu entschlossen einen wildfremden Typen bei mir übernachten zu lassen? Warum hast du den Bus verpasst, warum hast du dich entschlossen hier hin mitzukommen? Warum sind wir kostenlos reingekommen?” Er nickt. “Meinst du nicht, dass das hier genau der richtige Ort ist um so eine Nachricht zu bekommen? Was wäre, wenn du jetzt Daheim wärst?”
“Wenn ich jetzt Daheim wäre”, beginnt er leise, “dann würde ich jetzt mit meiner Mutter 400km zu meinem Opa fahren.” Ich drücke seine Schulter. “Ich glaube, deinem Opa würde es sehr viel besser gefallen, dass du nicht mitfährst. Dein Opa würde wollen, dass du ihn so in Erinnerung behältst wie du ihn kennst. Du würdest auch nicht wollten, dass deine Enkel dir beim Sterben zusehen. Ich glaube es gibt gerade keinen positiveren Ort auf dieser Welt als diesen hier.” Und als er sich umsieht wir die Welt wieder lauter. Stimmengewusel, unglaublich gute Musik, die Sonne brennt auf unsere Köpfe. Wieder nickt er. “Ich glaube, du hast recht.”
Wir bleiben noch ewig, bis Nachts um elf. Luis verpasst wieder seinen Bus und ich biete ihm ein weiters mal meine Gästematratze an. Wir entscheiden uns gegen die S-Bahn und laufen eine halbe Stunde zu mir nach Hause. Wir reden noch bis zwei Uhr morgens. Und als ich kurz vorm einschlummern bin denke ich, was für ein verrücktes Wochenende das war und wie ich tatsächlich innerhalb von 48 Stunden einen neuen Freund gefunden habe.

Eine Woche später schreibe ich diesen Blogpost, seit ein paar Tagen habe ich nichts mehr von Luis gehört. Ich tippe die letzten Zeilen und entschließe mich ihm zu schreiben.

luis

 

Verrückte Welt.

sonntagsgefühl