Ich gehe den Walk of Shame.
So nenne ich das immer, wenn es draußen schon längst hell ist und man irgendwo durch die Stadt rennen muss, shitfaced, Make-up verloren hinter den Ohren, Tinitus und dem Bierfleck auf der Jeans. Vor ein paar Minuten habe ich eine beschissene Nachricht bekommen, bin von der U-Bahn wieder hochgerannt, weil ich dringend frische Luft brauchte.  Meine Kapuze hängt mir tief ins Gesicht, die Frisur, die auf dem Selfie vor ein paar Stunden noch ziemlich flawless aussah ist als solche nicht mehr zu erkennen und baumelt strähnig vor meinen Augen herum. Sei doch kein Narr, du musst immer nur einen Fuß vor den Anderen setzen, denke ich mir und laufe weiter geradeaus. Ich habe nicht vor, bis nach Hause zu laufen, eigentlich will ich gar nicht nach Hause, ich möchte einfach nur laufen. Ich möchte nicht mal Musik hören, ich sehne mich so sehr nach Stille. Ein bisschen Ruhe für mein aufgerütteltes Gemüt.

Eine Dreiviertel Stunde später, als ich den Kopf wieder hebe um zu sehen wie weit ich gekommen bin stehe ich an der Ludwigsbrücke. Meine Oberschenkel brennen wie Feuer, also entschließe ich mich dazu, mir einen Sitzplatz zu suchen. Wie oft ich schon über diese Brücke gelaufen bin – ich kann mich nicht erinnern auch nur einmal in vierundzwanzig Jahren die Treppen runter zur Isar gestiegen zu sein. Meine Füße tragen mich dahin, wo mein Kopf eben will. Versteckt unter ein paar Bäumen hüpfe ich die Mauer hoch und setzte mich auf den kalten Stein, ziehe meine Beine zu mir und bastel mir aus meinem Mantel einen wärmenden Kokon. Die Isar kann alle Wunden heilen, deshalb liebe ich sie so sehr. Die brüllende Stadt ist hier unten viel leiser, ich höre nur noch fließendes Wasser und ein paar wirre Stimmen in meinem Kopf, die mir sagen, ich solle weiterlaufen, sonst macht sich noch jemand sorgen. Aber mein Herz erzählt, dass nur dieser Ort und dieser Moment mich gerade beruhigen können, dass in meinem Zimmer nur Wände wieder anfangen würden zu reden, also bleibe ich hier, eine Stunde, vielleicht sind es sogar zwei.

Ein vorbeibretternder Radfahrer reißt mich kurz aus meiner Ruhe, ich falte meinen Kopf aus meiner Höhle und starre auf die steinerne Wand vor der Unterführung:

single thought

 

Diese elf Worte lassen es mich wieder verlieren. Mich selbst und meine Ruhe, die ich mir die letzten Stunden so hart erarbeitet habe. Ich glaube nicht an Zeichen, nein, nicht mal an mein eigenes Sternzeichen, aber diese Buchstaben kommen genau jetzt, in diesem Moment und stehen da als hätte sie eben jemand nur für mich dort hingeschrieben. Als wollte mich jemand zwingen mich mit den Stimmen auseinanderzusetzen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Klarheit schaffen, was ich will und ob es das alles eigentlich wert ist.

Ob ich nicht eigentlich mehr wert bin.

Again, and again, and again.