Die Eltern meiner besten Grundschul-Freundin hatten einen Pool. Wir wohnten zwar auch in einem süßen Einfamilienhäuschen (auch “Hexenhäuschen” genannt) mit riesigem Garten und kleinem Schlitten-Hügel, aber im Sommer war Paulis Garten einfach ein Highlight. Außerdem hatte sie Hunde. Und Wellensittiche.

Pauli war ein pummeliges Mädchen mit blonden langen Haaren, ein paar seltsamen Angewohnheiten (eines von diesen Kindern, die beim Fantasie-Spiel immer die Anführer-Rolle übernehmen wollten) aber das Herz am rechten Fleck. Als wir eines Tages mal wieder im Garten standen und am Rande des Pools balancierten bemerkte ich eine an der Wasseroberfläche schwimmende Biene, die Flügel bereits viel zu Nass um sich selbst retten zu können. Pauli lief schnell in den Schuppen um einen Kescher zu holen während ich dem Bienchen gut zuredete. In Teamarbeit fischten wir also das arme Geschöpf aus dem Pool, legten es vorsichtig auf einen Stein und halfen noch mit ein bisschen Pusten nach, sodass die Flügel schnell wieder trocken waren. Als sich die Biene dann plötzlich erhob und in ihrer Freude darüber wieder fliegen zu können ein bisschen die Kontrolle verlor erschrak sich Pauli, machte einen Satz rückwärts und trat unglücklich auf den hinter ihr liegenden Kescher. Es machte laut knacks, der Kescher brach und Pauli landete unsanft auf dem Hintern. Zu allem Übel stürzte sie sich auch noch mit ihren Händen auf einem scharfen Stein ab und riss sich den rechten Handballen blutig. Dann geschah etwas seltsames: Ohne auf ihre blutige Hand zu achten griff sie sofort nach dem zerbrochenen Kescher, wimmerte ein “Oh nein, oh nein…” und sah mich hilfesuchend an. Verwirrt starrte ich sie an. “Geht’s dir gut?” fragte ich, die Wunde an ihrer Hand sah nämlich echt nicht schön aus. Verständnislos sah sie mich an. “Der Kescher ist kaputt!” rief sie mit Tränen in den Augen, blickte zum Wohnzimmerfenster, wieder zurück auf den Kescher, wieder zu mir. “Ich muss das meinem Vater sagen…” flüsterte sie.

Ich verstand nicht. Der Kescher war doch nicht aus Gold. Und besonders schön fand ich ihn auch nicht. Bestimmt kostete der nur ein paar Mark, dachte ich. Ich konnte es mir nicht erklären, also folgte ich Pauli zur Haustür. Noch als sie lief versuchte sie den Kescher an der zerbrochenen Stelle irgendwie zusammen zu drücken, wordurch sie einige Blutschlieren hinterließ, natürlich vergeblich.
Was ist das nur für ein Kescher?

Vor der Haustür wartete ihr Vater bereits auf uns, er hatte es wohl vom Wohnzimmer aus gesehen. Ich kannte diesen Mann nicht, er sprach sonst nicht viel. Ich lächelte und sagte hallo. Als ich keine Antwort bekam sah ich fragend zu Pauli, die aber stand nur mit gesenktem Kopf da und hielt die Hände nach vorn, um ihrem Vater den blutverschmierten Kescher zu zeigen. Wieso sah sie ihrem Vater nicht in die Augen? Ein groteskes Bild. Ich verstand nicht, warum er sie nicht tröstete, auf die Wunde pustete und ihr sagte dass alles gut werden würde.
Aber er sagte gar nichts.

Er holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie schrie und hielt sich die Backe, macht aber keine Anstalten wegzulaufen. Ich muss wohl auch einen erschreckten Laut von mir gegeben haben, denn plötzlich sah mich ihr Vater an. Für einen winzigen Augenblick dachte ich, er wollte noch einmal zuschlagen, vielleicht sogar mich. In diesem kurzen Moment hatte ich Angst mir könnte jemand etwas antun. Ein Gefühl, was ich bis dahin nicht kannte.
Eben so schnell wie all das passiert war war es auch schon vorbei. Ihr Vater drehte sich auf dem Absatz um und stürmte davon, Pauli lief heulend die Treppe hoch in ihr Zimmer, nur ich stand noch vor der Haustür, komplett verwirrt, mit klopfendem Herzen und diesem seltsamen, unbekannten Gefühl im Bauch.

Auf dem Weg nach Hause schwor ich mir insgeheim, dass ich, wenn ich einmal groß bin, niemals jemanden schlagen würde. Erst recht nicht meine Kinder.
Wir sprachen niemals darüber. Ich sprach nie darüber. Nicht mit meinen Eltern und erst recht nicht mit Pauli. Wir sahen uns nur noch selten. Ich glaube, ihr war es furchtbar peinlich und ich konnte Jahrelang nicht verstehen was und warum das eigentlich passiert war. Wie oft das wohl noch passiert sein mag? Ist ihr Vater nur weggegangen, weil ich dabei war? Hätte er sie sonst nochmal geschlagen? Wegen eines Keschers? Ich beschloss, dass ihr Vater ein böser Mann sei. Ich beschloss ihn nicht zu mögen.

Mein Eltern haben mir beigebracht, dass Gewalt niemals eine Lösung ist. Ich habe das Glück sagen zu können dass ich niemals in meinen Leben Gewalt erfahren habe. Und dafür bin ich unendlich dankbar. <3

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In Unterhosen mit meinem Bruder // Irgendwann in den 90ern – fast hätte man’s ja übersehen!

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Urlaubserinnerungen