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“Das ist so verrückt”, sagte ich, “jetzt machen wir einfach den Führerschein, Tanja. Führerschein! Wir sind so alt geworden.” Tanja nickte zustimmend. Wir saßen uns gegenüber in der S-Bahn, blickten auf die vorbeiziehenden Felder und fühlten uns so alt mit unseren frischen achtzehn. Gestern noch die Schulbank gedrückt, heute schon in der FOS – da darf man auf die Toilette gehen wann man will. Und rauchen. Wir mussten uns nichtmehr mit falschen Ausweisen in die Clubs schleichen und durften auf Bauernfesten so lang bleiben wie wir lustig waren. Ich dachte damals, der Führerschein sei der Ernst des Lebens. Und so schlimm war der doch gar nicht.

Das ist nun sechs Jahre her. Und auch sechs Jahre, seitdem wir das letzte mal gemeinsam S-Bahn von der Schule in unser Heimatdorf fuhren. “Ich kann mir dich gar nicht hinter’m Steuer vorstellen”, habe ich zu ihr gesagt. Die schusselige Tanja, die danach noch so oft vergessen hat die Scheinwerfer einzuschalten oder die Handbremse zu lösen.
Dann zogen wir aus, fingen an mit studieren und jobben, verließen alte Freundeskreise, ließen Männer in unser Leben treten und verließen auch diese, fanden neue Lieblingsmenschen und kratzten monatlich das letzte Geld für die Miete zusammen. Ich dachte nie wieder an den Tag, an dem ich meinen Führerschein in den Händen hielt. Ich dachte an 12h-Schichten in der Bar, an Strom-Nachzahlungen, Studiengebühren, Handyrechnungen und Miete.

Irgendwann erfährt man, was aus dem Rest geworden ist. Auf Facebook poppen Fotos von Hochzeiten auf, das Lebensereignis “Geburt” wird hinzugefügt. Einer, den man von früher kannte wird seit zwei Wochen vermisst, die Hälfte deiner Freunde steckt in einer Quaterlife-Crisis und macht eine Therapie. Einer ist gestorben, einer hat den Krebs überwunden, einer spielt plötzlich in der Nationalmannschaft Fußball, obwohl die Sportlehrerin damals sagte er solle das “mit dem Fußball mal lassen und lieber studieren”. Viele sind die Welt erkunden gegangen, nur wenige kommen zurück. Karrieregeile Medizinstudenten sprießen aus dem Boden, der Typ der sich früher auf jeder Party nackt gemacht hat wird jetzt Anwalt.

Die ersten sind gescheitert,
die ersten was geworden,
die ersten wurden Eltern,
die ersten sind gestorben.

Und wieder sitze ich da und kann es manchmal nicht glauben. Was alles passiert, wo das Leben einen hinführt, wer mit dir geht und wer stehen geblieben ist. Jetzt bekommen sie Kinder und heiraten, wir sind so alt geworden. 

Ich vermisse manchmal die Zeiten der Unbeschwertheit, die Zeiten in denen Steuererklärung ein Fremdwort war und die Toilette sich irgendwie von alleine putzte. Zeiten, in denen der Junge von der Oberstufe das einzige Problem war, als noch keiner psychisch krank oder ein Alkoholproblem hatte. Als Mama morgens das Rollo für mich hochzog und mein Bruder jede Nacht unter mein Bett guckte um zu checken, ob auch keine Monster da sind.

Aber so gut ich momentan im Vermissen bin und meiner Jugend hinterhertrauere, genauso sehr liebe ich es manchmal bis spät in die Nacht zu arbeiten, in meiner eigenen Küche Sojabolognese für alle zu kochen und… wie schön sauber die Toilette ist nach dem Schrubben. Meine Tante sagte mal, die Zeit zwischen 25 und 30 sei die beste – wenn man gerade anfängt genug Geld zu verdienen und noch keine Kinder hat.