Benebelt öffnet sie die Augen. Es ist dunkel und totenstill. Ob ein paar Minuten vergangen sind, oder vielleicht doch schon Stunden? Sie reibt sich heftig die Augen und drückt ihren Daumen fest auf die Stirn direkt über der Nase, das unterdrückt den Kopfschmerz für einen kurzen Augenblick. Sie seufzt herzhaft. Warum aber ist sie aufgewacht?
Und dann, ganz leise, kaum merklich, hört sie ein unterdrücktes schluchzen. Eine leichte Vibration im Bett von jemandem, der eindeutig versucht ganz leise und heimlich in sich hinein zu weinen. Der verdammte Alkohol im Blut hat sie kurz vergessen lassen. Sie möchte etwas sagen, weiß aber einfach nicht wie sie es richtig rüber bringen soll. Wie erklärt man jemandem, dass Liebeskummer vorübergeht? Niemand, der es nicht vorher schon einmal erlebt hat weiß, dass es vorbei geht. Es fühlt sich endlos an. Also erzählt sie lieber das, was sie selbst erlebt hat. Vielleicht glaubt er ihr ja.
“Als es mir damals so schlecht ging” beginnt sie, “hatte ich ständig das Gefühl, ich müsste mich selbst festhalten.” Das Schluchzen hört auf. Gespannte stille. “Deshalb heißt es Herzschmerz, weißt du.” Sie drücke sich symbolisch ihre Hand auf die Brust obwohl sie weiß, dass er es in der Dunkelheit nicht sehen kann. “Es ist nicht einfach nur so daher geredet. Es ist ein tatsächlicher, unangenehmer körperlicher Schmerz. Man muss sich das in etwa so vorstellen, als übe man permanenten Druck auf den eigenen Brustkorb aus.” Sie drückt ihre Hand fester nach unten. “Man umarmt sich also selbst, oder zieht die Knie ganz fest an den Körper.” Sie sagt das weil sie weiß, dass er gerade genau so neben ihr liegt. Er wendet den Kopf zu ihr.
“Embryostellung”, flüstert er.
“Genau die meine ich”, sagt sie sanft. “Tagsüber ist es meistens nicht so schlimm”, fährt sie fort, “da hat man Ablenkung, ist unterwegs, die Freunde sind um einen herum. Der Kopf ist woanders. Aber sobald man im Bett liegt und das Licht ausgeht ist alles wieder da. Keine Musik, die die Stimmen im Kopf übertönen, keiner der dich beobachten kann wenn du weinst.” Er beißt sich beschämt auf die Lippen.
“Wenn du all das verspürst dann weißt du, dass es genug ist. Dann weißt du, dass du davon loskommen musst. Keine falschen Hoffnungen mehr. Es ist vorbei, du musst einen Schlussstrich ziehen, koste es was es wolle. Wenn du glaubst, eine Nummer in deinem Handy könnte dir gefährlich werden, dann lösche sie. Häng alle Bilder ab und packe Erinnerungen in eine Kiste, schließ sie ab und geb’ den Schlüssel jemandem dem du vertraust. Räum von mir aus deine gesamte Facebook-Freundesliste auf. Sorge dafür, dass du niemals in Versuchung kommen kannst. Und auch wenn es total bescheuert klingt: Wenn diese eine Person auf eine Party geht auf die du auch gehen wolltest dann bleib daheim. Es wird für dich sowieso keine Party. Du hast genug Leute um dich rum die eine Gegenparty schmeissen.” Ein rascheln, wohl ein Nicken. “Viele Leute, auch Freunde, werden es vielleicht nicht verstehen was du tust” sagt sie, “das sind diejenigen, die es noch niemals erlebt haben. Du darfst ihnen aber nicht böse sein, jeder war mal so. Sie können es nicht wissen.”
Endlich hört er auf zu weinen.
“Wie lang dauert es?” flüstert er.
“Das weiß ich nicht. Lang. Du wirst immer traurig sein, wenn du daran denkst. Weil es ganz einfach fürchterlich traurig ist. Aber der Schmerz geht vorbei, das verspreche ich dir.” Sie nimmt seine Hand und drückt sie fest. “Und wenn du heulen musst, dann heul verdammt noch mal. Freu dich auf den Moment an dem du die Kiste wieder aufsperrst und all diese wunderbaren Erinnerungen darin vorfindest. Vielleicht heulst du dann wieder. Aber man wird immer wehmütig wenn man sich schöne, alte Erinnerungen wieder ins Gedächtnis ruft. Aber ich verspreche dir, es wird dann anders sein.”
“Und dann”, spricht er laut, mit sicherer Stimme, “verliebe ich mich neu. Und das wird so viel besser.”
“Das ist die richtige Einstellung. Das zweite Mal ist ja bekanntlich immer besser. Also ich zumindest fand die Kammer des Schreckens besser als den Stein der Weisen. Oder das erste mal Pfannkuchen machen, mann hab ich das versaut.” Sie lachen beide laut auf, quatschen noch ein bisschen über dies und das. Über verlorene Lieben, alte Götter, neue Ziele und den ganz normalen Wahnsinn.
Gute Freunde braucht man in solchen Zeiten, das ist alles.
Also Kopf hoch, das Leben geht weiter und kann nur besser werden.