Trigger-Warnung:
In diesem Text wird sexueller Missbrauch beschrieben.
Vor etwa sechzehn Jahren beschloss ein 17-Jähriges Mädchen aus Schottland, sich das Leben zu nehmen. Lindsay Armstrong hatte den Mut gefasst, ihren Vergewaltiger vor Gericht zu bringen, sie hatte die Kraft aufgebracht, ihren Eltern und der Polizei von der schrecklichen Tat zu erzählen. Und sie setzte damit ein Zeichen – denn wie viele Frauen, Mädchen oder auch Jungen und Männer tatsächlich einem sexuellen Missbrauch zum Opfer fallen, ohne, dass sie jemals den Mut fassen, ihre Peiniger vor Gericht zu stellen, möchte ich mir gar nicht ausmahlen. Der Täter wurde damals verurteilt.
Trotzdem aber nahm sich Lindsay nur kurz nach Ende des Prozesses das Leben. Lindsays Mut verließ sie während der endlosen, zweiwöchigen Gerichtsverhandlung. Die Verteidiger des Täters schafften es, ihr einzureden, dass sie selbst Schuld an ihrer eigenen Vergewaltigung sei. Sie zwangen Lindsay dazu, im Gerichtssaal den String-Tanga hochzuhalten, den sie an jenem Abend der Tat trug – und forderten sie auf, die Aufschrift laut vorzulesen, die auf dem Kleidungsstück zu lesen war: „Little Devil“. Die psychischen Qualen waren für Lindsay nicht auszuhalten.
Heute, sechzehn Jahre später, Irland: Einem 27-Jähriger wird vorgeworfen, ein Mädchen vergewaltigt zu haben. Die Anwältin des mutmaßlichen Täters ist eine Frau. Als „Beweisstück“ zeigt sie unter anderem einen Spitzentanga, ähnlich dem, den das Opfer in der Nacht der Tat getragen haben soll. Das Tragen eines solchen Kleidungsstückes zeige deutlich, dass die 17-Jährige „offen war für intime Handlungen“, so die Verteidigung.
Der 27-Jährige wird freigesprochen.
#ThisIsNotConsent
Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es der 17-Jährigen geht, aber ich muss – und es bricht mit das Herz. Auch sie hatte den Mut gefasst, sich ihrem Peiniger zu stellen – und schlussendlich wurde mit dem Finger auf sie selbst gezeigt. Und es kam sogar noch schlimmer: Dem Finger wird recht gegeben. Ihr Peiniger wird nicht verurteilt. Lindsay Armstrong nahm sich damals das Leben, obwohl es zu einer Verurteilung des Täters kam. Heute, 16 Jahre später, wird der Täter nicht verurteilt. Kein „Schuld“Spruch für ihn – ein Schuldspruch für das Opfer. Aufgrund ihrer Unterwäsche.
Haben wir denn immer noch nichts gelernt?
Wie naiv war ich zu glauben, dass dieses Thema in den Köpfen der Leute angekommen sei? Als ich vor drei Jahren die Geschichte erzählte, wie ich mich fast nicht getraut hatte mich gegen eine sexuelle Belästigung zu wehren, weil ich sie (zunächst) als „nicht so schlimm“ empfand, bekam ich so viel Resonanz wie noch nie auf einen Beitrag. Ich beschloss, das Thema nicht aus den Augen zu lassen und mich gegen Victim Blaming und für die #StillNotAskingForIT Kampagne einzusetzen. Und wieder war die Aufmerksamkeit groß – fast zu groß für mich. Ich bekam endlos viele Nachrichten von Frauen und Männern, die mir ihre Geschichten zu dem Thema anvertrauten, und hier wurde mir da erste mal klar, wie präsent dieses Thema eigentlich ist – und wie wenig darüber gesprochen wird.
Ich möchte diesem Thema mit diesem Post wieder die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die es verdient. In der Hoffnung, Opfern von sexueller Belästigung den Mut und die Stärke zu geben, darüber zu sprechen. Denn genau das braucht diese Welt: Mutige Menschen, die andere durch ihren Mut inspirieren.
Ich möchte deshalb ebenfalls, wie viele Andere auch, noch einmal betonen, dass die Schuld für eine Straftat, immer, zu jeder zeit und unter jeden Umständen, zu 100% beim Täter liegt. Ein Vergewaltiger trägt die alleinige Schuld an einer Vergewaltigung. Sonst niemand.
-
Es ist also ganz egal welche Art von Kleidung du wählst – ob Minirock, Tanga, Spitzen-Panties, Glitzer-BH oder Unterwäsche mit frecher Aufschrift – es rechtfertigt KEINE sexuelle Belästigung jeglicher Art. Niemand darf dich anfassen, ohne deine deutliche, mündliche Einwilligung.
-
Vielleicht entschließt du dich auch mal, jemanden nach Hause zu begleiten. Weil du die Person interessant findest und die Gesellschaft genießt – oder vielleicht auch nur, weil die letzte Bahn schon weg ist und du nicht mehr heimkommst. Unter keinen Umständen bedeutet das aber, dass du Sex möchtest. Jemanden nach Hause zu begleiten ist ebenfalls keine Einwilligung.
-
Auch, wenn du zu viel Alkohol getrunken hast ist das keine Einwilligung. Natürlich hast du dich selbst zum Konsum entschieden – aber niemand hat das Recht dazu, diese Situation auszunutzen.
-
Auch, wenn du mit jemandem flirtest und interessant findest, bedeutet es nicht gleich, dass du “offen für alles” bist. Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo. Ein Flirt ist keine Einwilligung.
Falls jemand etwas anderes zu dir sagt, ganz egal wer – ob Fremde, Freunde, Familie oder sogar Eltern – dann haben sie schlichtweg unrecht. Es gibt KEIN „Du hättest ja echt mal besser aufpassen können…“, oder „Wenn du dich anders angezogen hättest…“. Gibt. Es. Nicht. Lass dir das nicht einreden. Wenn dir etwas angetan wird, was dich verletzt hat, egal ob körperlich oder seelisch, und du keinen Beistand in deinem Umfeld findest, wenn sie sogar noch mit dem Finger auf dich zeigen, wende dich ab und suche dir Hilfe. Hör ihnen nicht zu – hör nur auf DEIN Gefühl. Du bist es wert, gesehen zu werden.
Es gibt da draußen Menschen und Organisationen, die genau in solchen Fällen für dich da sind.
Ich selbst habe mich schon einmal an eine ähnliche Seelsorge-Organisation gewandt, als ich – ein anderes Thema betreffend – nicht mehr weiter wusste. Und keine Angst: Du musst nicht gleich jemanden anrufen! Du kannst eine E-mail schreiben (so habe ich es damals getan) oder sogar anonym chatten. Manchmal ist es leichter, Dinge aufzuschreiben, als sie aussprechen zu müssen.
Mein Schritt damals hin zu so einer Organisation war rückblickend betrachtet eines der wichtigsten Dinge, die ich je getan habe. Nur dank diesem Schrittes und der Hilfe, die ich danach erfahren habe, geht es mir heute gut.
Wohin kannst du dich im Falle einer Vergewaltigung, sexuellen Belästigung, eines sexuellen Missbrauches (o.Ä.) wenden?
- https://wildwasser.de/ – hier kannst du nach einer Beratungsstelle in deiner Nähe suchen, oder direkt das Kontakformular nutzen. Es gibt außerdem ein Forum, in dem man sich mit Betroffenen austauschen kann. So etwas empfinde ich als wahnsinnig wichtig, denn das Gefühl, nicht alleine zu sein, ist unfassbar wertvoll.
- https://weisser-ring.de – der weiße Ring hat ein Opfer-Telefon, bietet Hilfe vor Ort und ebenfalls eine Onlineberatung an.
- https://www.hilfetelefon.de/ – das Hilfetelefon – hier steht sogar ein Scort-Chat zur verfügung. Beratung findet man hier in 17 Sprachen, auch in Gebärdensprache.
- Außerdem kannst du dich an Frauenhäuser in deiner Nähe wenden.
Es gibt kein “nicht so schlimm”
Und bitte, vergiss niemals: Es gibt KEIN „nicht so schlimm“. Selbst, wenn dir jemand „nur“ eine Hand auf den Oberschenkel legt kann das ein fürchterlich widerliches Gefühl sein. Hör da drauf! Es gibt kein „nicht so schlimm“, wenn sich etwas für dich unangenehm anfühlt, ist es das auch. Jede Geschichte hat seine Berechtigung. Rede dir niemals ein, dass es „anderen ja bestimmt schlimmer ergangen ist“. Denn ja, das mag sein – trotzdem aber ist das, was du gerade fühlst, offenbar schlimm genug. Und das reicht aus. Du bist es genau so wert, gehört zu werden – auch du hast dir Hilfe “verdient”, immer und EGAL in welchem Fall. Sprich darüber!
Was können wir tun, damit so etwas nicht wieder passiert?
Auch ich hatte in meinem Leben nicht selten Sex, obwohl ich mir gar nicht sicher war, ob ich das gerade wirklich möchte. Ich hatte oft Sex, weil ich dachte, das “würde man eben so tun”, und “wenn ich den schon mit Heim nehme muss ich auch mit ihm schlafen.” Oder, noch schlimmer: “Er ist mein Freund, ich muss regelmäßig mit ihm schlafen sonst sucht er sich eine andere.” Ich mache keinem Mann hier einen Vorwurf – denn meine Einwilligung war immer da. Ich wünschte mir im Nachhinein trotzdem, ich hätte damals schon all diese Dinge gewusst und das Selbstvertrauen gehabt, zu wissen und zu sagen was ich wirklich fühle. In meiner letzten Single-Phase, die gerade mal ein halbes Jahr her ist, lernte ich einige Männer kennen, die ich interessant fand – trotzdem aber beschloss ich, mit keinen von ihnen Sex zu haben. Und ich kommunizierte das ganz klar: “Hey, wenn du magst kannst du gerne noch mit zu mir kommen. Aber bitte ganz ohne Erwartungen – ich werde nicht mit dir schlafen.”
Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass das Thema Victim Blaming und Consent wieder mehr Raum bekommt. Besonders wichtig aber ist es, zukünftigen Generationen die richtige Werte zu vermitteln. Denn ja, die meisten sexuellen Gewaltverbrechen gehen von Männern aus – aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass eben diese Männern von Vätern UND Müttern erzogen werden. Und auch die Strafverteidigerin im Prozess im Irland war eine Frau. Wir sollten unseren Kindern beibringen, um Erlaubnis zu fragen, ist man an der körperlichen Nähe eines anderen interessiert. Eine Junge sollte weinen dürfen, wann immer er möchte und niemals “seinen Mann stehen” müssen. Wir sollten unseren Jungs vermitteln, dass es nicht “uncool” ist, wenn er ein Mädchen mit nach Hause nimmt und es trotzdem nicht “flachlegt”. Und unsere Mädchen sollten wir zu selbstbewussten, jungen Frauen erziehen, die ganz genau wissen und aussprechen können, was sie wollen – und was nicht.
Und bitte: Niemals schweigen. Sei laut! Du hilfst nicht nur dir selbst damit, sondern gibst auch anderen den Mut, es dir gleich zu tun.
Hier findest du weitere Posts zum Thema “This Is Not Consent”.
Liebe Angela, finde es super, dass du deine Reichweite nutzt, um solche Themen anzusprechen! Allerdings habe ich das Gefühl, dass du die Fakten hier etwas stark verkürzt dargestellt hast – genau wie auch viele andere Beiträge zum Thema #thisisnotconsent. Es ist unfassbar, dass die Anwältin diese Aussage zu der Unterwäsche gemacht hat. Vitctim Blaming geht natürlich überhaupt nicht, da sind wir uns absolut einig. Und genau diese Rechtsanwältin sollte kritisiert werden, gerne auch noch die Tatsache, dass da während der Verhandlung nicht sofort jemand eingeschritten ist.
Aber ob und inwiefern das Urteil davon tatsächlich beeinflusst wurde, ist – soweit ich das verstanden habe – unklar. Es ist ja nicht so, dass der Urteilspruch sich darauf als Begründung stützte, oder? Ich glaube, wir müssen aufpassen (spreche jetzt mal von “wir”, weil ich denke, dass du und deine Leser*innen, mich eingeschlossen, bzgl. des Themas ähnliche Ansichten haben), dass wir uns nicht unglaubwürdig machen. Verkürzte Darstellungen machen angreifbar und solcher Mittel bedienen sich derzeit häufig Leute, die ganz woanders am politischen Spektrum angesiedelt sind… Das als Denkanstoß. Lieben Gruß
Liebe Jule (und auch liebe Angela!)
erst einmal ein großes Lob! Finde den Artikel sehr gut und so wichtig! Ich finde es super, dass du dich immer wieder für gechehens Unrecht in dieser Welt einsetzt und den Mund aufmachst!
Die Aussage von dir Jule, dass wir nicht wissen, inwiefern das die Urteilsfindung beeinflusst hat, finde ich grundsätzich richtig, da man kritisch an so ziemlich alles herangehen sollte. Jedoch schreibe ich grade eine Hausarbeit zu genau diesem Thema. Ich mache eine Ausbildung zur Polizistin und schreibe in Zuge dessen über Vergewaltigungsmythen – also genau zu solche Aussagen, die im Gericht getätigt wurden (aufreizende unterwäsche zeige eine Bereitschaft für sexuelle Handlungen). Es gibt unzählige Vergewaltigungsmythen in der Gesellschaft und auch in der Justiz! Inwieweit solche Mythen die Urteilsfindung beeinflussen, nennt man Vergewaltigungsmythenakzeptanz und kann man messen. Solche Mythen haben einen Einfluss vor Gericht, da gibt es mehrere Untersuchungen zu. Was ich auch noch erschreckend fand: grade einmal 8% der Opfer zeigen ihren Täter an. Eine unglaubliche Zahl! Es ist daher super wichtig, dass solche Artikel geschrieben werden und langsam ein Bewusstsein geschafft wird. Bevor ich mich mit diesem Thema beschäftigt habe, hätte ich auch niemals geglaubt, dass die Zahlen des Glaubens an diese Mythen so hoch und die Zahl der Anzeigen so gering ist.
Danke für diesen Beitrag. Ich denke täglich über dieses Thema nach.
Meine Kinder sind zwar noch relativ klein, trotzdem ist es mir wichtig, dass sie wissen, dass niemand sie berühren darf, wenn sie das nicht wollen.
Mein Sohn zum Beispiel hasst es Bussis zu bekommen, auch von mir. Ich bekomme täglich viele Bussis von ihm, aber umgekehrt ganz selten und wenn er dann doch mal eines will, ist es umso schöner. Leider respektieren, dass nicht alle, obwohl er es mit seinen 4 Jahren sehr deutlich kommuniziert. Meiner Meinung nach gehn auch diese erzwungenen Bussis viel zu weit.
Seine Schwestern sind da ganz anders, sie wollen dafür andere Sachen nicht.
Eigentlich wollte ich nur sagen, es ist wichtig, dass schon die Wünsche der Kleinsten ernst genommen werden.
Lg