13 Semester

Januar 2017

Ich trete aus dem dunklen Betonklotz nach draußen in die warme Nachmittagssonne. Manchmal, wenn ich nach einem langen dunklen Winter wieder vergessen habe, wie sich die Sonne auf meiner Haut anfühlt, fährt sie durch meinen Körper wie ein kurzes Verliebtsein. Mein Herz wird ganz warm, ich schließe instinktiv die Augen und genieße die wohlige Vitamin-D-Umarmung. Meine Lungen füllen sich mit kalter Luft, und als ich wieder ausatme, habe ich ein bisschen das Gefühl, mit der Luft auch all den Frust der letzten sechseinhalb Jahre auszuatmen.

Das war’s.

Es ist tatsächlich vorbei. Ich habe den letzten Vortrag gehalten, die letzte Arbeit abgegeben. Der Klotz an meinem Bein namens »Studium« ist endlich weg, ab heute kann er mir gar nichts mehr. Ich bin frei. Wie oft habe ich nicht mehr daran geglaubt? Wie oft lag ich heulend in meinem Bett und fragte mich, ob all die Jahre Studium nun umsonst gewesen waren? Wie oft habe ich diese Welt und diesen verdammten »ohne Bachelor bist du nichts«-Gedanken verflucht und verflucht und verflucht. Ich weiß es nicht mehr. Ich konnte es irgend- wann nicht mehr zählen.

Es gab Zeiten, da habe ich mit allen Mitteln versucht zu verdrängen. Habe die Tatsache, dass ich immer noch mitten im Studium stecke, einfach weggeschoben – bis die Briefe ins Haus flatterten. Fristüberschreitung, Prüfung nicht bestanden. Weil: nicht angetreten. Drohun- gen mit Exmatrikulation. Jedes Mal, wenn mir der Gedanke an den Betonklotz wieder in den Kopf schoss, schlug mir das Herz bis zum Hals, meine Finger wurden ganz kalt, und ich fühlte mich unendlich allein. Was bin ich nur für ein Loser. Ich schaffe es nicht mal, mich auf der Studiums-Website einzuloggen und zu checken, was ich noch tun muss. Es ist doch gar nicht mehr so viel. Aber meine Handlungsunfähigkeit versaut mir alles. Alle aus meinem Semester sind bereits fertig, nur ich nicht. Wie soll ich mich da blicken lassen? Man wird mich so sehen, wie ich mich selbst sehe: als Versager.

Zu Beginn meines Studiums war ich noch voller Motivation. Endlich Studentin! Endlich vom süßen Studentenleben kosten! Und dann studiere ich auch noch Fotografie – alles, was ich jemals wollte. Doch mit den Jahren verlor ich meine Energie für die Sache. Ich war unsicher, verglich mich ständig mit anderen, und das Bloggen war eine für mich viel wichtigere und schönere Sache geworden. Ich versäumte immer mehr Vorlesungen, tat nur noch das Nötigste, und ab dem 4. Semester verlor ich komplett den Anschluss. Das Studium war irgendwann nur noch eine dunkle Wolke, die ich ständig mit mir herumtrug, die mir Übelkeit bescherte, sobald ich einen Gedanken an sie zuließ.

Ab und zu aber, wenn wieder ein Brief ins Haus flatterte, der mich ermahnte, dass ich eine bestimmte Prüfung dieses Semester ablegen müsste, schaffte ich es doch, das Mindeste an Energie aufzuwenden, um wenigstens eine einzige Prüfung im Semester abzulegen. Das war mein Limit. Danach ging alles wieder von vorne los – bis zum nächsten Brief.

Als ich endlich fast alle Module bestanden hatte, war die Regelstudienzeit von sieben Semestern bereits weit überschritten. Dann flatterte der Brief zur Bachelorarbeit ins Haus: erster Fehlversuch. Weil: einfach nicht angemeldet, einfach nicht hingegangen. Mal wieder. Ich hatte nur noch eine einzige Chance – und sogar die verbaute ich mir fast, weil ich wieder die Anmeldung verpasste. Mein Antrieb, auch nur ein Fitzelchen Energie für dieses Studium aufzuwenden, war so tief vergraben, dass sich selbst das Aufrufen der Uni-Webseite jedes Mal wie ein Marathonlauf anfühlte. Aber trotz verspäteter Anmeldung zur Bachelorarbeit durfte ich weitermachen. Ich fühlte mich wie ein lästiger Sonderfall. Ich begann alles, was mit dem Studium zu tun hatte, zu hassen. All die »Scheiß-Hipster-Design-Studenten«, jeden Professor und jede Dozentin, die vermeintlich über mich den Kopf schüttelten, den hässlichen Betonklotz und sogar den Weg dorthin.

Ich fühlte mich mit diesem Thema jahrelang so einsam, so allein, so verloren. Ich wollte abbrechen, Hunderte Male wollte ich einfach nur weglaufen. Jedes Semester wieder packte mich eine unfassbare Angst, eine unfassbare Wut über all das – und am meisten über mich selbst. Das Gebäude meiner Fakultät zu betreten war wie der Eintritt zur Hölle. Ich setzte mich allein in die hinterste Reihe und rannte davon, sobald ich wieder durfte. Ich bin allein damit. Niemand ist so bescheuert und so faul wie ich. Ich bin ein Versager.

Mit Ach und Krach schaffte ich es, ein Thema für meine Bachelorarbeit zu finden, das ich mochte – und einen Dozenten, der mir gut zusprach. Meine Motivation war der Flug nach Hawaii. Ich wollte unbedingt dorthin, musste dafür aber knapp vorher meine Arbeit abgeben. Und siehe da: Ich schaffte es tatsächlich.

Trotzdem fehlte mir noch immer ein einziges letztes Blockseminar. Ein Seminar, das ich eigentlich im 5. Semester bereits hätte belegen sollen, aber nie getan hatte – dessen Frist ich natürlich schon lange verpasst hatte. Fristüberschreitung, mein neuer, zweiter Vorname. Das Seminar würde genau dann stattfinden, wenn ich auf Hawaii sein sollte. Auf den letzten Drücker überwand ich mich dazu, dem zuständigen Dozenten von meiner Misere zu erzählen. Er war mein persönlicher Endgegner-Dozent, um den ich stets den größten Bogen machte, weil ich glaubte, seine Abneigung mir gegenüber am deutlichsten zu spüren. Mit wenigen harten Worten machte er mir klar, dass dies meine letzte Chance sei und ich den Kurs besuchen müsse. Fliege ich nach Hawaii, versaue ich mir mein komplettes Studium. Alle Prüfungen bestanden, die Bachelorarbeit abgegeben – und doch keinen Studienabschluss. Er blieb kalt, zeigte kein Verständnis. Ich verließ weinend den Raum.

Und flog trotzdem nach Hawaii. Ich war fürchterlich wütend. Es kam mir nicht in den Sinn, deswegen hierzubleiben. Ich wusste, dass diese Reise wichtig für mich sein würde – wichtiger als ein Bachelorzeugnis jemals sein könnte.

Als ich zurückkam, fasste ich neuen Mut. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich nun sechs Jahre diesen verdammten Klotz mit mir herumgeschleppt hatte und all die Tränen und Anstrengungen umsonst gewesen sein sollten – wegen eines einzigen Kurses. Also schleppte ich mich zur Studienberatung. Dort verriet man mir, dass ich lediglich eine schriftliche Fristverlängerung beantragen müsse – alles also halb so wild. Es geht halt doch immer irgendwie weiter, dachte ich voller Genugtuung.

Wieder verstrich ein Dreivierteljahr. Bereits die Wochen vor dem Seminar starb ich tausend Tode. Ich fürchtete mich so sehr vor dem Vortrag und der neuen Gruppe, die ich kennenlernen sollte: alles fleißige Fünftsemestler, ich als einziges unbekanntes Gesicht. Der Loser aus dem Dreizehnten. Bestimmt muss ich erklären, in welchem Semester ich bin. Der Dozent des Seminars war natürlich mein Endgegner-Dozent, genau der, vor dem ich zuletzt in Tränen ausgebrochen war.

Beim Betreten des Betonklotzes wurde mir sofort wieder übel. Ich nahm mir wieder vor, so unsichtbar wie möglich zu sein, und setzte mich in die letzte Reihe. Offensichtlich aber hatte ich mir einen Platz neben dem aufgedrehtesten Jungen im ganzen Semester ausgesucht, der mir sofort lächelnd die Hand hinstreckte und mir gar nicht die Möglichkeit gab, unsichtbar zu sein. Tobi riss mich aus meinem Schneckenhaus, verwickelte mich in ein lockeres Gespräch und fragte mich unverblümt von vorne bis hinten aus. Er richtete mit seinem ehrlichen Interesse einen dicken fetten Scheinwerfer auf mich – und machte mich sichtbar. Er nahm mir meine Angst mit einem einzigen Handschlag. Binnen weniger Minuten war alle Einsamkeit, alle Angst, jedes Alien-Gefühl verflogen, als wäre es niemals da gewesen. Wie konnte das sein? Tobis offene Art brachte mich dazu, mich in alle Richtungen zu öffnen – und so erwähnte ich sogar die verteufelte Dreizehn. »Dreizehn Semester?«, rief er lachend und hob die Hand. »High five on that!« Es war das erste Mal, dass ich über die dreizehn Semester lachen konnte. Und als ich dann noch meine schreckliche Angst vor dem heutigen Vortrag erwähnte, meinte er nur schulterzuckend: »Stell dir einfach alle hier im Raum nackt vor. Oder schau mich an, ich werde dir zeigen, wie prima ich deinen Vortrag finde!«

Als ich nach vorne ging, fühlte ich mich auf einmal wieder als Teil von etwas. Wenn all die Ängste, die ich während der letzten sechseinhalb Jahre mit mir rumgeschleppt hatte, mit nur einem einzigen Hand- schlag begraben werden können … wenn alles, was man braucht, das Gefühl ist, Teil eines Großen und Ganzen zu sein, dann sollen gefälligst auch alle hier wissen, wer ich wirklich bin. Keine Maske mehr. Ich blickte kurz zu Tobi, der mir mit ausgestrecktem Daumen ein breites Grinsen zuwarf.

»Ich bin Angela«, begann ich, »und ihr kennt mich bestimmt alle nicht – ich bin nämlich im 13. Semester. Wenn ihr also irgendwann mal glaubt, es geht mit dem Studium nicht mehr weiter, denkt an mich. Oder schreibt mir, ich kenne mich ganz gut aus.« Mit diesem Satz blickte ich in dreißig lachende Gesichter – sogar der Endgegner- Dozent hatte ein verstecktes Schmunzeln auf den Lippen.

Das ist übrigens auch ein Kapitel aus meinem Buch “Es ist okay” ❤️