“Wie kannst du denn um diese Uhrzeit noch so gut aussehen?” sagt der Typ zu mir, als er mir das Bier in die Hand drückt. Ich fühle mich geschmeichelt, gerade weil es fünf Uhr morgens ist und ich meinen Tangle Teezer bestimmt schon Ewigkeiten nicht mehr benutzt habe, geschweigedenn mein Makeup. Gut sieht er aus. Die Cap umgedreht, drei-Tage-Bart und breite Schultern. Schlangfertig ist er – und offensichtlich interessiert. Ich schlecke den Honig, den er mir um’s Maul schmiert, gierig ab und spiele die desinteressierte. Er erzählt mir, dass dieser berühmte deutsche Schauspieler sein bester Freund ist und zeigt mir als Beweis ein gemeinames Selfie. “Mit wem bist du eigentlich hier?”, fragt er, und blickt in die Runde besoffener Menschen. Ich deute auf meine Freunde ein Stück weiter hinten, die sich gerade in der Morgensonne ein weiteres Bier aufmachen. “DAS sind deine Freunde?” fragt er ungläubig und starrt mich an. “Kennst du sie?” frage ich, verwirrt von seiner Reaktion. “Nee.. aber.. mit SOLCHEN Leuten hängst du ab?” Von einer Sekunde auf die Andere sieht er gar nicht mehr so gut aus. Die Überheblichkeit in seiner Stimme sieht für mich aus, als hätte er sich gerade vollgekotzt. Ich baue mich vor dem Elyas M’Barek-Verschnitt auf, verschränke die Arme, blicke ihm fest in die Augen und sage: “Ja, mit SOLCHEN Leuten hänge ich ab. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir so ist, aber ich suche mir meine Freunde nicht danach aus wie sie aussehen oder was für Kleidung sie tragen.” 
Ich drehe ihm den Rücken zu, höre noch ein “ey, reg dich mal ab”, stapfe in Richtung meiner Freunde und setzte mich zu ihnen. Allesamt vielleicht ein bisschen übernächtigt – aber trotzdem leider geil. Ich schenke mein erobertes Bier her, blicke in die freundlichen, vertrauten Gesichter und muss an ein Gespräch denken, was ich vor einiger Zeit mit meiner Freundin Anni führte.

Anni ist wunderschön. Natürlich sind alle meine Freundinnen wunderschön, aber Anni wurde ein wirklich atemberaubendes Äußeres in die Wiege gelegt. Sie hat diese tollen, hellen Augen, dunklen Haaren, volle Lippen, eine Figur, um die sie ständig benieden wird, kann zudem auch noch tanzen und hat einen wahnsinnig gutes Gespür für Mode. Und trotzdem muss ich sie so oft in den Arm nehmen, weil sie traurig ist, unsicher und verletzlich. Manchmal bleiben die Leute sogar im Vorbeigehen stehen, um sie zu betrachten und ihr zu sagen: “Wow, du bis ja unfassbar schön.”
Als ich sie damals vor 5 Jahren kennenlernte habe ich ähnlich reagiert. Mich hat ihre Schönheit fast schon eingeschüchtert und erst als sich aus der Bekanntschaft über Jahre eine Freundschaft entwickelte merkte ich, wie zerbrechlich sie eigentlich ist. Wenn ich schöne Mädchen sehe gehe ich immer davon aus, dass sie nur so vor Selbstbewusstsein strotzen – eben weil ihr Umfeld ihnen ständig zu verstehen gibt, wie toll sie aussehen. Auch Anni ist sich dieser Tatsache bewusst. Oder, wie sie es ausdrückt: “Ja, stimmt, ich habe offensichtlich ein Äußeres, was die Leute anspricht.”

Diesen Satz sagte sie vor ein paar Tagen zu mir, als wir zu dritt in meiner Küche saßen und über Essstörungen, Schönheitswahn und Selbstwertgefühl sprachen. Ich verstand bis Dato nie, warum Anni sich oft so klein macht, ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund schiebt und so wahnsinnig unsicher ist. Sie weiß doch, dass sie schön ist. “Aber weißt du, Angela”, sagte sie zu mir, “mir wird ständig und überall gesagt, wie schön ich sei. Aber meinst du, irgendjemand von diesen Leuten möchte mich kennenlernen? Die Leute machen mir Komplimente und gehen weiter. Keiner interessiert sich dafür, wer ich eigentlich bin.”
Wenn Anni unter neuen Leuten ist denkt sie sich nicht, dass sie irgendwie hässlich ist und sich die Leute deshalb nicht mit ihr beschäftigen – sie denkt, dass sie keine liebenswerte Person ist. Weil alle nur eine funkelnde, fast schon einschüchternde Fassade sehen aber niemand den selbstlosen, netten, witzigen Menschen dahinter. Während die meisten von uns ihr Selbstbewusstsein aus der Beurteilung anderer über ihr Aussehen schöpfen, verliert Anni ihres dadurch. Wie oft ich schon Sätze wie “Bin ich ein schlechter Mensch?”, “Verhalte ich mich gerade falsch?”, oder “Muss ich noch mehr tun, mich noch mehr aufopfern?” gehört habe. Und ich würde sie gerne jedes mal wieder Schütteln, damit sie aufwacht und sieht, dass ihr Inneres ganz genau so wunderschön und Makellos ist wie ihr Äußeres.

Anni hat mich gelehrt, dass Schönheit sehr wohl ein Fluch sein kann. Nicht nur, weil die Leute eben NUR das sehen – sondern auch, weil man dadurch schnell ausgenutzt wird. An Leute gerät, die sich mit ihrer Schönheit brüsken wollen – die neben ihr gehen, weil es gut aussieht. Schaut mal, was ich für eine schöne Freundin habe. Ihr kennt das Phänomen: Schöne Menschen, die sich nur mit schönen Menschen umgeben. Die fünf beliebtesten Mädels in der Schule, BFFS forever, und trotzdem gibt es alle paar Tage den fiesesten Zickenkrieg. Wieviele dieser Mädchen Jahre später wohl noch miteinander befreundet sind? Glücklich sind nur die, die irgendwann erkannt haben, dass man seine Freunde nicht nach Äußerlichkeiten auswählt. Natürlich fühlte ich mich kurz geschmeichelt, weil so ein gutaussehender Kerl Interesse an mir zeigte – aber seine abwertende Haltung gegenüber Menschen, die er nicht kannte, zeigte mir innerhalb weniger Sekunden, dass ich mit diesem Typen eigentlich nichts zutun haben möchte – und dass er an meiner Persönlichkeit wohl keinen Deut interessiert war.

Anni ist wohl der selbstloseste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sie hat ein Herz aus Platin, Gold und Diamant. Wenn ich sie treffe freue ich mich, meine Freundin Anni zu sehen, weil ich weiß, dass der Tag mit ihr nur gut werden kann. Ich wünsche mir, dass sie niemals (wieder) an Leute gerät, die ihr das Gefühl geben, ihr Persönlichkeit wäre weniger Wert als ihr Äußeres.

“Du bist eine Elfe!”

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